HAMBURG (BLK) – 2008 wurden die schönsten Erzählungen William Trevors in dem Buch „Geborgtes Glück“ bei Hoffmann und Campe veröffentlicht.
Klappentext: Ein Juwel für Trevor-Fans. Für alle anderen eine große literarische Entdeckung.
Trevors erzählerisches Werk ist so umfangreich wie vielschichtig. Hanns Zischler kennt und verehrt den großen irischen Schriftsteller seit Langem und hat die schönsten Erzählungen in diesem Band zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen.
Oft erzählt Trevor Begebenheiten aus dem Leben ganz normaler Menschen: von Einsamkeit und verpassten Chancen, von der Allmacht des Schicksals und dem kleinen Glück. Der große irische Schriftsteller, der schon lange als der „unangefochtene Meister der Short Story“ gilt (Frankfurter Allgemeine Zeitung), liebt die leisen Töne; er hat die Gabe, mit einigen wenigen Strichen große Geschichten zu entwerfen. Trevors Erzählungen sind nicht allein deshalb immer wieder beglückend, weil aus ihnen Lebensweisheit und Klugheit spricht, sondern weil sie zutiefst menschlich sind.
William Trevor, Jahrgang 1928, verbrachte seine Kindheit im ländlichen Irland. Er besuchte das Trinity College in Dublin und ist Mitglied der Irish Academy of Letters. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane und Erzählungen und wurde mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet; zuletzt erhielt er 1999 den David Cohen British Literature Prize für sein Gesamtwerk. Sein letzter Roman Die Geschichte der Lucy Gault (Hoffmann und Campe, 2003) war für den Booker Prize nominiert. Der Erzählungsband Seitensprung (Hoffmann und Campe, 2005) war 2004 unter den „100 Notable Books of the Year“ der New York Times. Für Tod des Professors erhielt Trevor den Irish Times Literature Prize. Er lebt in Devon/England. (vol/wip)
Leseprobe:
© Hoffmann und Campe ©
IN ISFAHAN
Sie lernten einander ganz zufällig kennen, im oberen Büro der Chaharbagh Tours Inc. Ein Junge im unteren Büro hatte Normanton gebeten, nach oben zu gehen und zu warten: Die Stadtrundfahrt werde etwas später beginnen, da es Probleme mit dem Motor des Minibusses gebe.
Das obere Büro mit seinen an zwei Wänden aufgereihten Stühlen ähnelte eher einem winzigen Wartezimmer als einem Büro. Die Stühle waren sehr einfach: Metallrahmen und rotes Plastik auf Schaumgummi. Es gab einen Tresen, auf dem sich kostenlose Isfahan-Reiseführer auf Französisch und Deutsch stapelten, Führer über Shiraz und Persepolis auch auf Englisch. An den Wänden hingen Poster des Iranischen Fremdenverkehrsamtes: der Berg Damavand, die Straße nach Chalus, einheimische Tänzer südiranischer Volks stämme, der Apadana-Palast in Persepolis, die Medrese von Isfahan. Kosten und Konditionen der Chaharbagh Tours waren eindeutig festgelegt: Rundfahrten mit De Luxe Microbus. Pro Person 375 Rial (5 Dollar). Rundfahrten in französischer und englischer Sprache. Microbus kommt zum Hotel, andernfalls kommen Sie zum Büro. Sämtliche Eintrittspreise inbegriffen. Keine Einkaufsgelegenheiten. Chaharbagh Tours Inc. wünscht Ihnen alles Gute.
Auf eine Broschüre gestützt, die sie auf ihrer Handtasche ausgebreitet hatte, schrieb sie gerade mit Kugelschreiber einen Luftpostbrief. Eine unbequeme Schreibposition, die ihr jedoch nichts auszumachen schien. Sie schrieb flüssig, ohne aufzublicken, als er eintrat, ohne innezuhalten, um darübernachzudenken, was sie im nächsten Satz sagen wollte. Sonst befand sich im oberen Büro niemand.
Er nahm einige Faltblätter von den Ständern auf dem Tresen. Isfahan était capitale de l’Iran sous les Seldjoukides et les Safavides. Sous le règne de ces deux dynasties l’art islamique de l’Iran avait atteint son apogée.
„Wollen Sie auch die Stadtrundfahrt machen?“
Er drehte sich zu ihr um, überrascht, dass sie Engländerin war. Sie war schlank und wäre vermutlich nicht sehr groß, wenn sie sich aufrichtete, eine Frau in ihren Dreißigern, ohne Ehering. Ihre Augen in dem blassen Gesicht waren hinter riesigen runden Sonnenbrillengläsern verborgen. Ihr Mund war sinnlich mit recht vollen Lippen, das Haar weich und schwarz. Sie trug ein pinkfarbenes Kleid und weiße hochhackige Sandalen. Nichts an ihr wirkte elegant.
Sie ihrerseits sah einen Mann, der ihr typisch englisch vorkam. Er war mittleren Alters mit grau meliertem Haar, trug einen Leinenanzug und einen dazu passenden Leinenhut. Sein Gesicht wies zahlreiche Runzeln und Fältchen auf, besonders um die Augen und den Mund herum. Wenn er lächelte, bildeten sich noch mehr Runzeln und Fältchen. Seine Haut war gebräunt, sah allerdings so aus, als sei sie normalerweise bleich. Sie schätzte, dass er sich erst seit ein paar Wochen in Persien aufhielt.
„Ja, ich will auch die Stadtrundfahrt machen“, sagte er. „Es gibt Probleme mit dem Minibus.“
„Sind wir beide die Einzigen?“
Er sagte, das glaube er nicht. Der Minibus werde die Hotels abklappern und die Leute, die Karten für die Rundfahrt gelöst hätten, einsammeln. Er wies auf die Notiz an der Wand.
Sie nahm ihre dunkle Brille ab. Ihre Augen waren ihr her vorstechendstes Merkmal: wunderschöne braune Augen von unendlicher Tiefe, die sich in ihrem eher gewöhnlichen Gesicht geradezu geheimnisvoll ausnahmen. Ohne die dunkle Brille hatte sie das Aussehen einer Inderin: Lippen, Haare und Augen vereinigten sich zu diesem Eindruck. Ihre Aussprache dagegen war eindeutig englisch und durch ihr Bemühen, einen stark näselnden Cockney-Akzent zu verdecken, womöglich hässlicher, als sie ursprünglich sein mochte.
„Ich schreibe gerade an meine Mutter“, erklärte sie.
Er lächelte sie an und nickte. Sie setzte die Sonnenbrille wieder auf und befeuchtete mit den Lippen die Ränder des Luftpostkuverts.
„Microbus bereit“, sagte der Junge von unten, ein lächelnder Halbwüchsiger von etwa fünfzehn Jahren mit schwarz geränderter Brille und blendend weißen Zähnen. Er trug ein weißes Hemd mit sorgfältig aufgerollten Ärmeln und eine braune Baumwollhose. „Rundfahrt beginnt, bitte“, sagte er. „Ich bin Reiseleiter Hafiz.“
Er führte sie zum Minibus. „Sie zwei deutsch?“, erkundigte er sich, und als sie antworteten, sie seien Engländer, sagte er, es kämen nicht viele Engländer nach Persien. „Amerikaner“, sagte er. „Franzosen. Deutsche oft.“
Sie stiegen ein. Der Fahrer wandte den Kopf, nickte und lächelte ihnen zu. Mit Hafiz wechselte er ein paar Worte auf Persisch und lachte.
„Er beginnt einen Witz“, sagte Hafiz. „Er wünscht mir alles Gute. Das ist die erste Rundfahrt, die ich mache. Entschuldigen Sie mich, bitte.“ Er las Faltblätter und Reiseführer durch, wobei er sich nervös mit der Zunge über die Lippen fuhr.
„Ich heiße Iris Smith“, sagte sie.
Er heiße Normanton, verriet er ihr.
Sie fuhren durch das blaue Isfahan, vorbei an Kuppeln und Minaretten und an Andenkenläden in der Chahar Bagh Avenue, jede Fläche mit blauen Mosaiken verziert, selbst die Taxis blau lackiert. Wegen des dürren Bodens wirkten Bäume und Gräser besonders kostbar. Der Himmel war bleich und verhieß Hitze.
Der Minibus hielt am Park Hotel, am Intercontinental und am Shah Abbas Hotel, in dem Normanton übernachtete. Vor dem Old Atlantic, das, wie Iris Smith am Flughafen von Teheran erfahren hatte, billig und sauber war, fuhr er nicht vor. Er sammelte eine Gruppe von Franzosen ein, ein deutsches Paar, das sich einen Sonnenbrand zugezogen hatte, und zwei junge Amerikanerinnen mit rosigen Gesichtern. Hafiz sprach weiterhin englisch und erklärte, dies sei die einzige Fremdsprache, die er beherrsche. „Ladies – Gentlemen, ich bin Schüler aus Teheran“, verkündete er stolz, und dann gestand er: „Isfahan kenne ich nicht gut.“
Der Anführer der französischen Reisegruppe, ein gereizt aussehender Mann, den Normanton für einen Universitätsprofessor hielt, hatte bereits dagegen protestiert, dass ihr Reiseleiter kein Französisch sprach. Er protestierte abermals, als Hafiz sagte, er kenne Isfahan nicht gut, und beschwerte sich, er sei erheblich getäuscht worden.
„Nein, nein“, erwiderte Hafiz. „Das ist nicht meine Schuld, Sir, ich bin armer persischer Schüler, Sir. Gestern Abend komme ich das erste Mal nach Isfahan. Es ist unmöglich, dass mein Vater mich schon einmal nach Isfahan schickt.“ Er lächelte den gereizten Franzosen an. „Also, hören Sie bitte, Ladies – Gentlemen. Heute Morgen wir beginnen glückliche Rundfahrt, sehen viele kuriose Szenen.“ Wieder blitzte sein Lächeln auf. Auf Englisch las er aus einem Faltblatt der Iran Air vor: „Isfahan ist das Schmuckstück des islamischen Persien, aber vor mindestens zweitausend Jahren gegründet! Jetzt, Ladies – Gentlemen, sind wir vor dem Chehel-Sotun- Palast. Das ist Pavillon von lyrischer Schönheit, Palast von vierzig Säulen, wo Schah Abbas II. alle seine königlichen Gäste bewirtete. Alle verlassen bitte Microbus.“
Normanton schlenderte allein zwischen den vierzig Säulen des Palastes umher. Die jungen Amerikanerinnen machten Fotos, das deutsche Paar ebenso. Ein Mitglied der französischen Reisegruppe hantierte mit einer Videokamera, um bewegte Bilder einzufangen, dabei bewegten sich nur die Touristen und ihre Reiseleiter. Die junge Frau namens Iris Smith schien fehl am Platz, fand Normanton, wie sie auf ihren hochhackigen Sandalen herumstöckelte.
„So, jetzt Masjed-e Schah“, rief Hafiz und klatschte in die Hände, um seine Schäfchen wieder aufzulesen. Der reizbare Franzose fuhr fort zu protestieren und beschwerte sich darüber, dass zu viel Zeit auf das Chehel Sotun verschwendet worden sei. Hafiz lächelte ihn an.
„Masjed-e Schah“, las er von einem Faltblatt, als der Minibus sich wieder in Bewegung setzte, „ist herausragendste und imposanteste Moschee, erbaut Anfang des 17. Jahrhunderts von Schah Abbas dem Großen.“
Doch als der Minibus vor der Masjed-e Schah vorfuhr, stellte sich heraus, dass diese wegen Renovierungsarbeiten für Touristen geschlossen war. Die Sheikh-Lotfollah-Moschee bedauerlicherweise ebenfalls.
„So wir beginnen Teppichweberei“, sagte Hafiz und schüttelte angesichts der Proteste des französischen Professors lächelnd den Kopf.
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Literaturangaben:
TREVOR, WILLIAM: Geborgtes Glück. Die schönsten Erzählungen. Übersetzt aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser und Thomas Gunkel, herausgegeben von Hanns Zischler. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. 144 S., 12 €.
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