MÜNCHEN (BLK) – Der Roman „Das verlorene Bestiarium“ von Nicholas Christopher ist im März 2011 in der Premium-Reihe des dtv Verlages erschienen. Es wurde von Pociao aus dem Englischen übersetzt.
Klappentext: Unzählige Legenden ranken sich um das „Karawanenbuch“, ein Bestiarium aus dem Mittelalter mit prächtigen Illustrationen von Fabelwesen, die die Sintflut nicht überlebt haben. Die Handschrift ist seit Jahrhunderten verschwunden. Wer sie findet, so heißt es, werde das absolute Wissen erlangen. Als Xeno Atlas, schon als Kind fasziniert von phantastischen Geschöpfen und Tiergeistern, von diesem Buch erfährt, setzt er alles daran, ihm auf die Spur zu kommen. Er macht sich auf eine abenteuerliche Suche, die ihn um die ganze Welt führen wird: vom New York der Fünfzigerjahre über die Schlachtfelder Vietnams, über Bibliotheken und Archive auf Hawaii bis in die verwinkelten Gassen des Venedigs der Achtziger - und mitten hinein in das Rätsel seiner eigenen Familiengeschichte.
Nicholas Christopher wurde 1951 in New York geboren. Am Harvard College studierte er Englische Literatur. Er bereiste Europa und war als Jounalist für führende Zeitungen und Magazine tätig. Heute arbeitet Nicholas Christopher als Professor an der Columbia University und hat bislang fünf Romane, acht Gedichtbände sowie ein Sachbuch veröffentlicht. Christopher ist Professor lebt in New York.
Leseprobe:
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I
Die erste Bestie in meinem Leben war mein Vater.
Tag und Nacht verfolgte mich sein Gebrüll, brach in meine Träume ein, rüttelte an den Fenstern. Wenn er in meiner Tür stand, füllte er den Rahmen aus. Das war mein frühester Eindruck: Er war größer als die Tür. Und er kam von weit her, roch nach Meer. Auf seinem dicken Mantel und der Wollmütze lag Schnee.
Wir lebten in vier düsteren Räumen. Ich teilte mein Zimmer mit einer alten Frau, der Mutter meiner Mutter. Mein Vater schlief am anderen Ende des Flurs, wälzte sich auf den rostigen Sprungfedern hin und her, schnarchte durchdringend. Er war ein unruhiger Schläfer, der nachts häufig aufstand, dann knarzten die Dielen unter seinen schweren Schritten. Außerdem gab es noch die Küche mit niedriger Decke, einem schwarzen Ofen und einem runden Tisch, an dem meine Großmutter mir das Essen vorsetzte.
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Wenn sich Schatten durch diese Zimmer bewegten und mein Gesicht streiften wie Nebel, hörte ich ihre leisesten Regungen. Ich war auf Geräusche fixiert. Die Welt eröffnete sich mir durch das Gehör. Wasser tropfte in den Rohren, Dampf klopfte in den Heizkörpern, eine Maus raschelte im Laub, eine Fliege summte. Die Atemzüge meiner schlafenden Großmutter wurden wegen einer Zahnlücke von regelmäßigen Pfeiftönen begleitet. Alles andere aus ihrem Mund war ein Flüstern. Sie raunte mir unablässig etwas zu, so wie sie es früher wohl auch mit meiner Mutter gemacht hatte.
Ich glaube, dass meine Großmutter mir bestimmte Dinge erzählte, und als ich lernte, Wörter zu verstehen, waren sie bereits in meinem Unterbewusstsein verankert. Daten, Namen, Orte, die auf keine andere Weise dorthin gelangt sein konnten. Die Vergangenheit meiner Großmutter, meiner Mutter – die Geschichte ihres Lebens, die ich nun als eigenständige Figur betreten hatte.
Meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben.
Damals hatte mein Vater angefangen zu brüllen. In meinem ersten Lebensjahr war das alles, was ich von ihm kannte. Eines Tages war er verstummt, als wäre er in einem großen See in seinem Innern versunken, aus dem er, zumindest in meiner Anwesenheit, nie wieder wirklich auftauchte.
Ein Hund und eine Katze waren die ersten nicht menschlichen Geschöpfe in meinem Leben. Der Hund gehörte meiner Großmutter und hieß Re, ein deutscher Schäferhund, schwarz mit brauner Schnauze. Er schlief vor der Tür meines Zimmers wie ein Wächter.
Die Katze hatte keinen Namen. Sie war orangerot mit feinen weißen Streifen und goldenen Augen. Wenn sie von der Feuerleiter auf den Fenstersims sprang, fütterte meine Großmutter sie mit Resten aus der Küche. Manchmal rollte sich die Katze zum Schlafen neben mir zusammen. Ich erinnere mich an ihre Wärme, ihren zarten Atem an meinem Arm oder wie ihr Schwanz gegen meine Rippen schlug.
Abends wiegte mich meine Großmutter in den Armen, strich mir über den Kopf oder sang mir ein Schlaflied vor. Ihr eigenes Bett kam mir im Dunkeln weit weg vor, wie ein Schiff am anderen Ende eines tiefen Hafenbeckens. Die meiste Zeit war ich allein, mit dem Fenster zur Linken und der Tür vor mir. Die Zimmerdecke war mit Rissen übersät – ich studierte sie wie die Karte eines nicht existenten Ortes.
Ein Teil von uns bleibt für immer in dem Raum zurück, den wir zuallererst bewohnten. Alles, was ich zum ersten Mal hörte, sah oder fühlte, nahm in diesem Raum Gestalt an. Es war eine eigene Welt – mit Wahrzeichen, Klima, einer Bevölkerung –, die sich, unendlich klein, von der größeren Welt abgespalten hatte. Die Luft war dunkelblau. Sie bewegte sich. Folgte bestimmten Strömungen. Strudeln. Verwirbelungen.
Ich spürte die Geister von Tieren. In den Augenblicken kurz vor dem Einschlafen oder nach dem Wachwerden sah ich flüchtige Bilder: eine aufwärts gerichtete Schnauze, das Auge einer Echse, eine glänzende Kralle, das Aufblitzen eines Flügels. Hufe sprühten Funken dicht neben meiner Wange. Fell knisterte. Zähne klapperten. Ich hörte Keuchen. Heulen. Klagende Rufe.
Und im Morgengrauen war alles verschwunden.
Das erste Fabelwesen, das ich je sah, sprang mich vom Rücken meines Vaters an. Er stand mit nacktem Oberkörper im dampfenden Badezimmer und rasierte sich. Ich sah ihn durch die offene Tür, als ich in den Flur kam. Die Tätowierung war blau und rot mit ein paar gelben Einsprengseln und wirkte sehr lebendig, wenn sie sich bei jeder Anspannung der Muskeln von den Schultern bis zur Hüfte wellenförmig bewegte.
Es war eine Seeschlange. Ein langer schuppiger Körper mit Pferdekopf. Eine flammende Mähne, eine feurige Schwanzflosse, gefletschte Zähne, glühende Augen. Ein albtraumhaftes Zwitterding. Es erhob sich mit Gischt auf dem Rücken aus den wogenden Wellen, unter einer Wolkendecke, die von Blitzen zerrissen wurde.
Ich schrie auf, und mein Vater drehte sich um, mit Rasierschaum am Kinn und in der Luft erstarrter Klinge. Dann hockte er sich neben mich, strich mir über die Wange und versicherte, ich müsse keine Angst haben. Ich war anderer Meinung. Bis heute ist es die furchterregendste Tätowierung, die ich je gesehen habe.
„Sie vertreibt die bösen Geister, wenn ich auf See bin“, sagte er.
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Für mich war sie selbst ein böser Geist.
Mein Vater schaufelte Kohle in den Heizkessel eines Schiffes.
Er hieß Theodore. Seine Hände waren riesig, Arme und Schultern knorrig wie Holz. An seinem festen Rücken war einmal ein Messer verbogen, als man ihn in einer dunklen Gasse überfiel. Er hatte schwarze Augen, schwarze Locken und einen dichten, kurz geschnittenen Bart. Die Brauen über seiner Hakennase waren zusammengewachsen. Um den Hals trug er ein schweres Medaillon an einer Kette. Als ich in einem Buch zum ersten Mal Bilder von Piraten sah, dachte ich, so etwas Ähnliches müsse er sein.
Normalerweise war er zwei Monate am Stück unterwegs. Wenn er nach Hause kam, und sogar, wenn er eine Woche lang jeden Tag badete, hielt sich der Kohlenstaub in seinem Haar, auf seiner Haut, in seinem Atem. Jeder Satz endete mit einem kleinen schwarzen Wölkchen.
Hier die Häfen, die er in einem einzigen Jahr anlief: Hamburg, Marseille, Singapur, Murmansk, Caracas, Montevideo, Sydney. Er passierte den Panama- und den Suezkanal, fuhr um Kap Hoorn und durch die Magellanstraße. Er folgte dem Äquator über den Indischen Ozean von den Seychellen bis zu den Malediven.
Manchmal schickte er Ansichtskarten aus weit entfernten Häfen. Nur eine davon ist bis heute erhalten geblieben, vergilbt und zerknittert: ein handkoloriertes Foto vom offenen Fischmarkt im Hafen von Tanger. Reihen von silbrig glänzenden Sardinen auf wackligen Karren. Das Sonnenlicht wirft filigrane Schatten durch die zum Trocknen aufgehängten Netze. Ein Mann im Kaftan schlägt einen Tintenfisch gegen die Ufermauer. Als Junge konnte ich den Hafen beinahe riechen. Von der Briefmarke auf der Rückseite starrte mir ein Mann mit rotem Fez auf dem Kopf ernst entgegen. Die unbeholfenen Druckbuchstaben meines Vaters in wässriger Tinte hatten sich mit der Zeit hellbraun verfärbt. Er war ein Mensch, der nicht viel Worte machte, weder auf dem Papier, noch sonst.
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Literaturangabe:
CHRISTOPHER, NICHOLAS: Das verlorene Bestiarium. Aus dem Englischen von Pociao. dtv Verlag, München 2011. 380 S., 14.90 €.
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