Von Elke Vogel
Ganz ehrlich? Holly-Jane Rahlens hat den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 verschlafen. Die mittlerweile seit 37 Jahren in Berlin lebende Amerikanerin war damals gerade auf Verwandtenbesuch in San Francisco und erfuhr von der friedlichen Revolution in der DDR erst mit einem Tag Verspätung. Dann aber ergriff sie ein unbändiges Gefühl von Freude - und auch Stolz. „Ich lebe da! In Berlin!“, rief sie den verwunderten Menschen zu, die vor den Fernsehern in einem Elektronikgeschäft in San Francisco die Bilder aus Deutschland verfolgten. Wenige Tage später war die Schriftstellerin zurück in ihrer Wahlheimat Berlin. 20 Jahre nach dem Mauerfall hat Rahlens die aufregende Wende-Zeit in dem deutsch-deutschen Liebesroman „Mauerblümchen“ verarbeitet, der am 1. September erscheint.
Mit größter Detailgenauigkeit und ganz ohne ideologischen und psychologischen Überbau erzählt Rahlens von zwei „Mauerblümchen“ in Berlin zwei Wochen nach dem Mauerfall: Da ist die 16-jährige Amerikanerin Molly, die sich selbst als völlig unscheinbar und nirgends zugehörig empfindet und wie ihre Autorin den historischen Moment verschlafen hat. Noch einen Tag hat Molly in Berlin, dann will sie endgültig nach New York zurückkehren - vorher muss sie aber noch eine Mission im Ostteil der Stadt erfüllen. Und dann ist da die 19-jährige „Ost-Pflanze“ Mick („wie Jagger“), der hinter der Mauer aufgewachsen ist, heute den Unterricht an der Schauspielschule schwänzt und sein Glück nicht fassen kann, als er in der U-Bahn tatsächlich eine echte Amerikanerin kennenlernt.
Knapp vier Stunden Zeit bleiben Molly und Mick - nicht nur, um herauszufinden, ob aus der zufälligen Begegnung tatsächlich eine Liebe auf den ersten Blick werden könnte. Ganz nebenbei und völlig unprätentiös arbeiten die beiden jungen Leuten gleich mehrere Kapitel der deutschen Geschichte auf: Mick, dessen Mutter in der DDR als Besamungstechnikerin arbeitet, erklärt Molly den Alltag im „real existierenden Sozialismus“ und klärt sie außerdem über die offizielle wie inoffizielle Sicht der DDR-Bürger auf den vermeintlichen „Klassenfeind“ auf.
Molly wiederum bringt nicht nur ihre amerikanische Lebensart und ihre West-Berlin-Erfahrungen mit, sondern auch die Traditionen ihres jüdischen Elternhaus. Der Tod ihrer Mutter hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Am Prenzlauer Berg will sie das Geburtshaus ihrer Mutter besuchen, deren Heimat Berlin bis zum Jahr 1938 war. Als Kind floh sie damals zusammen mit ihren Eltern vor den Nazis in die USA.
Die 59-jährige Rahlens hat sehr genau recherchiert, deshalb taugt der Roman für eine echte Zeitreise. Bei Mollys Ausflug nach Ost-Berlin stimmen alle Details: die schmierseifengrünen Kacheln in den U-Bahnunterführungen, das an Schmirgelpapier erinnernde Toilettenpapier, die Kettwurst und der säuerliche Desinfektionsmittel-Geruch. Fein beobachtet sind auch die Menschen - etwa jener Grenzpolizist am Übergang Friedrichstraße, der mit der neuen Situation nach der Grenzöffnung völlig überfordert ist. Oder die verbiesterte Angestellte im „Mitropa“-Restaurant an der Friedrichstraße, die plötzlich sehr soziale und menschliche Gefühle zeigt, als es Molly übel wird.
Die Geschichte erzählt von vier Stunden aus dem Leben von Molly und Mick, die die Zukunft der Beiden verändern. „Die Mauer ist offen. Und ich bin zu“ - so hat Molly zu Beginn des Tages ihr Lebensgefühl im politisch so plötzlich veränderten Berlin beschrieben. Am Ende des Tages entlässt Molly die Gefühle aus ihrer eingemauerten Seele.
Literaturangabe:
RAHLENS, HOLLY-JANE: Mauerblümchen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009. 160 S., 12,95 €.
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