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Eine andere Geschichte des Ersten Weltkriegs

„Die Nacht des Kirpitschnikow“ von Hannes Leidinger und Verena Moritz

© Die Berliner Literaturkritik, 13.01.09

 

Wir kennen das Bild des Schmetterlings, dessen Flügelschlag an einem anderen Ort einen Wirbelsturm auslöst und den berühmten chinesischen Sack Reis. Gibt es tatsächlich immer nur genau einen passenden Zeitpunkt, um ein großes geschichtliches Ereignis, gar einen Wendepunkt auszulösen? Muss es ein ganz bestimmter Funke sein, der ein Pulverfass entzündet? Beeinflussen scheinbar „kleine“ Ereignisse und Entscheidungen einzelner Personen den Lauf der Welt? Diesen Fragen gehen Verena Moritz und Hannes Leidinger im Hinblick auf die viel beschworene und interpretierte Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts – den Ersten Weltkrieg – nach. Der Blick des Lesers wird dabei wie durch eine Kamera gelenkt: Von der Totale geht es zu fünf Nahaufnahmen zu mehr oder minder bekannten Einzelereignissen und zu guter Letzt noch einmal in die Totale zurück. Ein gewagter Spagat, der nicht immer gelingt.

Zunächst reflektieren die Autoren über „Was-wäre-wenn“-Spielchen in der Geschichtswissenschaft und die Gewichtigkeit des Augenblicks. Anschließend wird der Erste Weltkrieg aus der Distanz im Großen und Ganzen ins Auge gefasst, als Zäsur, als Einleitung des kurzen 20. Jahrhunderts, als Hintergrund für die folgenden Nahaufnahmen. Der Fokus richtet sich zuerst auf die Ereignisse vom Juli 1914, als Kaiser Wilhelm Österreich einen „Blankoscheck“ gegen Serbien ausstellte. Es wird die Frage aufgeworfen, ob und inwieweit Einzelpersonen wie der Diplomat Alexander Graf Hoyos, letztendlich durch ihr Agieren zu einem bestimmten Zeitpunkt zu kriegsauslösenden Faktoren wurden. Das nächste Ziel des Objektivs ist die erste Marneschlacht. Welche militärischen Fehlentscheidungen führten zum „Wunder an der Marne“? Danach geht der Schwenk nach Russland, auf den Titelgeber des Buches, den russischen Soldaten Timofej Kirpitschnikow und die Rolle, die seine Befehlsverweigerung für den Beginn der Februarrevolution spielte. Im Anschluss richtet sich der Blick auf den wohl eher unbekannten Ort Tscheljabinsk, mitten in Sibirien und auf das dortige Zusammentreffen von tschechischen Legionären mit Kriegsgefangenen, welches die Lunte zum Pulverfass des Bürgerkriegs gezündet haben soll. Die letzte Nahaufnahme findet wieder in Deutschland statt, genauer gesagt im hohen Norden Deutschlands und nimmt den Aufstand der Kieler Matrosen ins Visier. War genau dieser nötig, um die Revolution von 1918 zu entzünden oder war ihr Beginn ohnehin nur eine Frage der Zeit?

„Die Nacht des Kirpitschnikow“ liest sich spannend. Besonders die Episode um Kirpitschnikow selbst, die dem Leser, der sich der anderen Ereignisse zumindest noch als Schlagwörter aus dem Geschichtsunterricht entsinnen wird, wohl eher unbekannt sein dürfte, hat Romanpotential. Es ist leichter, sich die Handlungen Einzelner einzuprägen und diese nachzuvollziehen. Im Einzelereignis findet sich die Möglichkeit zur Identifikation oder Abgrenzung. Komplexe, schwer überschaubare politische und geschichtliche Zusammenhänge werden so gerne einmal herunter gebrochen, was für ein erstes besseres Verständnis der Zusammenhänge auch kein Frevel ist. Was mir jedoch bei diesem Werk fehlt, ist ein besserer Übergang vom Kleinen zum Großen. Es fehlt an Stringenz und spätestens wenn die Autoren versuchen, wiederum den Ersten Weltkrieg als Voraussetzung oder Knotenpunkt für den Zweiten Weltkrieg und für andere politischen Ereignisse darzustellen, sprengen sie ihren eigenen Rahmen. Die fünf Nahaufnahmen für sich bieten spannende Denkansätze und vielleicht wäre man besser beraten gewesen, weniger Antworten zu suchen und mehr Fragen aufzuwerfen. Die Geschichten könnten für Leser, die Einsteiger in die Materie um den Ersten Weltkrieg sind für sich stehen, um weiterführendes Interesse zu wecken und es dem Leser, der bereits in die Materie vertieft ist, selbst überlassen, sie in die Komplexität der Ereignisse einzuordnen. Man müsste sich nicht über schon häufig gesponnene Spekulationen ärgern, bei denen man sich zunächst einmal Fragen muss, wie sinnvoll diese überhaupt sind. Gibt es sie überhaupt, diese „andere“ Geschichte des Ersten Weltkriegs? Man muss den Autoren zu Gute halten, dass sie stets ihre eigene Arbeitsweise in Frage stellen. Dieses Buch wirkt wie ein Versuch, ein Experiment, wenn es bereits in der einleitenden „Gebrauchsanweisung“ heißt: „Meine Güte, was man nicht alles bedenken soll, muss,... Machen Sie es uns gleich: Stürzen Sie sich Hals über Kopf ins ‚Getümmel’, man kann auch sagen ins ‚Gerümpel’ der Geschichte’.“ Ein interessantes Experiment ist es allemal.

Von Michaela Groß

Literaturangaben:
LEIDINGER, HANNES/MORITZ, VERENA: Die Nacht des Kirpitschnikow – Eine andere Geschichte des Ersten Weltkriegs. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008. 320 S., 12,90 €.

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