BERLIN (BLK) – Im September 2011 hat der Insel Verlag „Die Verfeinerung der Deutschen“ von Erwin Seitz herausgebracht. Das Buch trägt den Untertitel „Eine andere Kulturgeschichte“.
Klappentext: Diese neue Kulturgeschichte beendet eine Legende: daß die Deutschen traditionell ohne Lebensart seien und weit hinter der feineren Gesittung ihrer romanischen Nachbarn zurückgeblieben. In einer großen Bewegung führt Erwin Seitz von der germanischen Vorzeit über die römischen Wurzeln und das keltische Erbe bis in die Großstadtkultur der Gegenwart und ihre kulinarischen Tempel. Durch mehr als zweitausend Jahre einer wechselhaften Geschichte, in der die Deutschen nach Tiefpunkten und Durststrecken immer wieder zu höchster Form der Verfeinerung aufliefen.
Erwin Seitz, geboren 1958 in Wolframs-Eschenbach, lernte Metzger und Koch, studierte Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin und Oxford und promovierte mit einer Arbeit über Goethes Autobiographie. Seitz war von 2002 bis 2008 Herausgeber von Cotta's kulinarischem Almanach und lebt als freier Journalist, Buchautor und Gastronomiekritiker in Berlin.
Leseprobe:
©Insel Verlag©
I EINLEITUNG
Eine Sache der Verfeinerung
Als im Februar 2009 die deutsche Ausgabe der Zeitschrift ›Vanity Fair‹ nach nur kurzem Bestehen gegen die Wand fuhr, lachten sich Medienexperten ins Fäustchen. Man hätte es ja gleich wissen können, so der Tenor, dass Deutschland kein glamouröses Land sei, um ein solches Magazin mit guten Geschichten zu nähren. Lediglich vereinzelte Stimmen meinten: Das sei nicht fair; es käme vielleicht nur darauf an, den Glamour besser zu erkennen.
Es scheint ein alter Hut zu sein, dass es bei den Deutschen mit guter Lebensart hapert. Das Geschmeidige, das Leichte und Lässige, die feine Durchdringung der Dinge, der Sinn für das Delikate: all das wird den Deutschen nicht unbedingt nachgesagt. Man zollt ihnen eher Respekt für eine gewisse praktische Ader: für Wirtschaftlichkeit, Genauigkeit, Ordnungsliebe. Schon Goethe, der in solchen Sachen immer etwas Treffendes wusste, legte Aurelie in „Wilhelm Meisters Lehrjahre „ die Worte in den Mund: „Es ist der Charakter der Deutschen, dass sie über allem schwer werden, daß alles über ihnen schwer wird.“ (1)
Gemach, gemach! Bereits früher waren ausländische Besucher hin und wieder verdutzt, dass es in Deutschland doch nicht so steif zuging. Petrarca konnte es bei seinem Besuch in Köln im Jahr 1333 kaum fassen, dass ihm so viele angenehme und schöne Dinge begegneten: „Erstaunlich für eine Stadt der Barbaren, welche Kultiviertheit, welch städtisches Gepräge, welcher Ernst der Männer, welch gepflegtes Äußere der Frauen.“ Kurz danach kam er bei der Beobachtung einer langen Prozession aus dem Staunen nicht mehr heraus: „Denn das ganze Ufer bedeckte ein herrlicher und überaus großer Zug von Frauen. Ich wurde ganz still: Gute Götter, welch eine Schönheit der Gestalt, welch eine Vollkommenheit der Haltung!“ (2)
Der Poet, der mit den Vorurteilen antiker Autoren gegenüber den Bewohnern nördlich der Alpen vertraut war, hatte anderes erwartet: Wildheit, Streitlust, Grausamkeit, Unmäßigkeit im Essen und Trinken, Plumpheit, Tölpelhaftigkeit. Nun so etwas! Seine eigenen, unvermuteten Eindrücke ließen sich kaum veröffentlichen. Petrarca schickte die Lobesworte über Köln zunächst an seinen Freund und Gönner, Kardinal Giovanni Colonna in Avignon, nahm sie aber dann nicht in seine „Epistulae metricae“ auf, weil ein solcher Hymnus auf eine deutsche Stadt nicht in das Weltbild eines italienischen Frühhumanisten passte. Er spickte sein Werk mit den gewohnten Wendungen über Deutschland: Es sei dort öd und frostig, es gäbe keine erlesenen Weine und nur selten etwas Wohlschmeckendes zu essen.
Die Deutschen glauben zuweilen selbst daran, dass andere Nationen, wie die Italiener oder die Franzosen, von Natur aus bessere Voraussetzungen für das gute Leben hätten oder mehr davon verstünden als sie, ganz so, als sei es ein unabänderliches Schicksal oder Deutschland eigentlich kein schön gelegenes, von der Sonne verwöhntes Land. Immer wieder wurden hierzulande Stimmen laut, dass man sich die feinen Dinge des Lebens aus dem Kopf schlagen solle und sich stattdessen harter Arbeit, biederer Häuslichkeit hingeben möge. Ja, das Publikum genoss es insgeheim, wenn jemand in aufgeregtem, unheilvollem Ton die Zustände im eigenen Land anprangerte, Kritik am Luxus übte und strengere Sitten forderte, um sich Wunder was davon zu versprechen, wie weiland Martin Luther – statt wie Erasmus von Rotterdam einen maßvollen, abwägenden Ton anzuschlagen, um den überlegten Umgang mit den Gütern der Zivilisation zu lehren. Es ließe sich eine Litanei der sauertöpfischen Selbstanklage der Deutschen zusammenstellen. Kleinmut und Größenwahn, Selbstzweifel und Überheblichkeit schwankten hierzulande des Öfteren heftig hin und her. (3)
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An sich ist Deutschland geologisch wie topographisch ein reichgegliedertes Land. Es hat Anteil an respektablen Bergmassiven, an den Alpen und den Mittelgebirgen, an großen Flüssen, an Rhein, Elbe, Oder und Donau, sogar an Meeren, an der Nord- und an der Ostsee. Es bringt durch ein gemäßigt feuchtes Klima von sich aus viel Grün, Wälder und Wiesen hervor. Nicht wenige Böden sind für die Landwirtschaft gar nicht schlecht geeignet, wie fruchtbare Lössschichten und Schwarzerden für das Getreide, steinige Hänge für den Weinbau, fette Marschen für die Viehzucht. Die Menschen haben im Laufe der Jahrhunderte etwas daraus gemacht. Man übernahm kulturelles Know-how von der mediterranen Tradition und erfand in kontinentaler Lage ein paar Dinge neu. Die hiesigen Breiten sind längst mit sehenswerten Städten überzogen: historischen Bauwerken, Kathedralen, Schlössern und Rathäusern, dazu mit modernem Komfort: Museen, Kinos, Gastronomie, Stadien, ebenso mit zeitgemäßen Verkehrswegen, Fahrradwegen, Schienennetz, Autobahnen und Flughäfen.
Nur sollte jetzt vielleicht der Anteil an unversehrter Natur nicht mehr stärker schrumpfen, weil heute neben den Städten auch die unberührte, heimische Landschaft zum Komfort dazugehört. Daniel Kehlmann schildert in seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ die ebenso schrulligen wie bewundernswerten Züge von zwei bekannten älteren deutschen Forschern und legt einem von beiden, Alexander von Humboldt, die Worte in den Mund: Der Wechsel von Wetter und Jahreszeiten mache die eigentliche Schönheit dieser Breiten aus. (4)
Dem guten Leben stand in Deutschland manchmal weniger der Mangel an natürlicher Mitgift entgegen als vielmehr eine verquere Ideologie. Sonderbare Mythen, die sich gegen den Einfluss der romanischen Kultur richteten, beherrschten zeitweise das Feld. Es war regelrecht ein Treppenwitz der Weltgeschichte, dass ausgerechnet das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im Zug der Reformation gegen das Römische wetterte. Luther ließ die europäische Tradition beiseite und suchte den unmittelbaren Weg zu Gott. Große Teile des Landes wandten sich im 16. Jahrhundert von einer stark verweltlichten römisch-katholischen Kirche ab und wurden gleichzeitig skeptisch gegenüber der verfeinerten Zivilisation des Südens und des Westens: gegenüber dem Städtischen, der Lebensart, der Feinschmeckerei.
Doch sollte man sich von der vorübergehenden Vorherrschaft bestimmter Weltanschauungen – Pseudo-Germanentum, orthodoxem Luthertum und Preußentum – nicht blenden lassen. Die Kultur der Städte, die Geselligkeit, das Genussleben, die Gastronomie waren in deutschen Landen stets besser entwickelt als das dürre Gesetz weltfremder Schwärmer oder der Schwarzseher und Misanthropen. Die Fundamente, die Karl der Große und Otto der Große im frühen Mittelalter durch die Erneuerung des Römischen Reiches im Land nördlich der Alpen gelegt hatten: Humanismus, Christentum, Papsttum, Kaisertum, kommunale Bewegung, waren mindestens ebenso prägend wie die Revisionen durch die Reformation im 16. oder durch den Nationalismus im 19. Jahrhundert im Sog der „Germania“ des Tacitus.
Wer eifrig nach deutschen Defiziten der Lebensart und Esskultur sucht, der findet sie. Doch eine solche Suche hat ihrerseits ennuyante, wenn nicht masochistische Züge. Es erscheint ergiebiger, dort anzuknüpfen, wo die Leute etwas von ihrem Metier verstanden. Es gab natürlich Tiefpunkte des Wohllebens, wie durch den Dreißigjährigen Krieg oder die Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber die Epochen davor und danach sahen doch anders aus oder zeigten zumindest ein gemischtes Bild. Allein das malerisch am Elbbogen gelegene Dresden, wie es im 18. Jahrhundert unter dem Einfluss römisch-französischer Architektur emporwuchs, überragt von jubilierenden Türmen und Kuppeln, präsentierte sich wie zum Genuss des Lebens hergerichtet. Dresden war der Stachel im Fleisch der Miesepeter in Berlin. Den Deutschen ist manchmal gar nicht klar, welch hohe Kultur sie einmal hatten, welch erstaunliche kulinarische Tradition zu entdecken ist. Selbst Tacitus, der gern als Kronzeuge für die bescheidenen Verhältnisse der Germanen wie der Deutschen ins Feld geführt wird, machte die Germanen nicht einseitig nieder, sondern hatte auch Sympathie für sie und stellte fest: „Der Geselligkeit und Gastlichkeit frönt kein anderes Volk ausgiebiger.“ (5)
Vielleicht ist es heute der Konsum im Kapitalismus, der die Lebensstile unterschiedlicher Nationen stärker angleicht als früher. Wo sich einigermaßen freiheitliche Politik und liberale Wirtschaftsordnung durchsetzen, erfassen Medien, Werbung, Fernsehen und Internet alle gesellschaftlichen Schichten und formen sie um. Helmut Schelsky hatte schon in den 1950er Jahren den berühmten, provokativen Begriff der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ geprägt. Pierre Bourdieu erkannte demgegenüber Ende der 1970er Jahre zwar nach wie vor die „feinen Unterschiede“ zwischen Großbürgern, Wirtschaftsbürgern, Bildungsbürgern oder Kleinbürgern, aber auch er räumte ein, dass sich sowohl die Merkmale der sozialen Gruppen als auch die nationalen Eigenheiten stärker als früher verschleifen.(6)
Ulrich Beck wies zwischenzeitlich darauf hin, dass es in der modernen, industriellen Welt „ein kollektives Mehr“ an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft und Massenkonsum gibt, wodurch ein Prozess der Individualisierung oder der Verselbständigung von Lebenslagen und Lebensstilen ausgelöst wird.(7) Studenten- und Jugendbewegungen, die 68er, Libertinage, Alternativ- und Ökoszene, Musik- und Kunstmilieu, Pop-Art, Rock und Rap: all das trägt ebenso zum Wandel der Lebensformen bei wie die Angebote von Kapitalismus, Technik, Industrie, Dienstleistung, Gastronomie. Es erscheint unsinnig, den Vertretern der einen oder der anderen Seite, der Off-Szene oder dem Establishment, mögliche gesellschaftliche Fehlentwicklungen einseitig in die Schuhe zu schieben.
Die Kultur des Kapitalismus ist bekanntermaßen paradox. Sie verlangt von den Menschen, wie es Daniel Bell auf den Punkt brachte, tagsüber hart zu arbeiten und abends ausgiebig zu genießen – zuerst fleißig Güter zu produzieren und dann tüchtig zu verschmausen. (8) Eine geordnete Routine des Alltags soll, wie Eva Illouz sagt, durch eine hedonistisch-kommerzielle Romantik der Freizeit entschädigt werden: durch Autos, Kinos, Restaurants oder modische Kleidung, im Idealfall ergänzt durch geistig-musische und naturhafte Elemente, durch Literatur, Oper, Ausstellung, Stadt, Strand und Berge. (9) Die Freaks des Computerzeitalters huldigen dem Informellen, Beiläufigen, Schwerelosen, doch die Sphäre des Kapitalismus lässt kaum ein regelloses Leben zu. Ohnehin entdecken viele im Gegenzug zur Luftbaumeisterei des Virtuellen auch das Traditionelle, Bodenständige, Unverfälschte. Eine bloß hochtechnologisierte, hyperkommerzielle Genusswelt wäre doch ein bisschen fad.
Zweifellos ist Deutschland heute anders als früher, nach all den Brüchen in der eigenen Geschichte und schmerzlichen Lernprozessen. Womöglich machte in jüngerer Zeit ein sportliches Großereignis sogar Epoche und ließ ein verändertes Gesicht aufscheinen. Nicht nur die ausländischen Gäste, auch die Deutschen selbst waren von der Atmosphäre bei der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land im Sommer 2006 verblüfft. Man überzeugte die Weltgemeinschaft nicht nur mit den gewohnten deutschen Tugenden: mit guter Organisation, Ordnung und Sicherheit – es entwickelte sich auch eine heitere, wenn nicht bezaubernde Atmosphäre. Jeder fieberte mit, auch Leute, die sich sonst nicht für Fußball interessierten; keiner gab den Spielverderber. Die Stadien wie die öffentlichen Plätze, wo die Spiele auf Leinwänden übertragen wurden, Kneipen und Lokale, in denen Fernseher standen, Straßen und Boulevards, alles war voll von Menschen. Man war nett und freundlich zueinander, sprach über die Spiele, war zuversichtlich, was die eigene Mannschaft anbelangte, die flott und beherzt agierte, und gönnte auch den anderen den Erfolg. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Fußballkaiser Franz Beckenbauer fielen sich im Berliner Olympiastadion nach einem Spiel vor Freude in die Arme. Die Deutschen zeigten der Welt und sich selbst, dass sie auf sympathische Weise feiern konnten – und zu leben verstanden. Das gute Spiel der eigenen Mannschaft vier Jahre später, bei der Fußballweltmeisterschaft im Sommer 2010 in Südafrika, tat ein Übriges. Irgendwie glauben viele jetzt an deutsche Spielkultur.
Eine Schwalbe mache noch keinen Sommer, könnte man einwenden. Doch es gibt unterschiedliche deutsche Traditionslinien. Da ist das Pseudo-Germanische, das Schwere, die Pedanterie – da ist aber auch der Sinn für das Zivile, Gesellige und Feine. Es erscheint lohnend, Klischee wie Wirklichkeit der Deutschen unter die Lupe zu nehmen, nicht zuletzt, um jene Stränge der Überlieferung zu finden, die hierzulande von jeher dem Zivilen und Städtischen, der Lebensart und Feinschmeckerei entgegenkamen.
Der Begriff des Feinen leitet sich im Deutschen vom Wort Fee ab. Das Feenhafte und das Feine, das Zarte wie das Leichte gehören zusammen. Die Verfeinerung meint schlechthin die durchdringende Bearbeitung des Rohen, Groben und Schweren, um Ansprechendes, Geschmeidiges, wenn nicht Zauberhaftes hervorzubringen, bedeutet den Schliff der menschlichen Fähigkeiten, das Urbarmachen der Natur, das Kultivieren von Landwirtschaft und Lebensmitteln, die Gründung von Dörfern und Städten, die Entwicklung von Handwerk, Handel und Industrie, die Pflege von Sprache, Geselligkeit und Gastlichkeit, von freien Künsten und Wissenschaften, von Staat und liberaler Rechtsordnung. Erst auf diesen Stufen der Zivilisation entwickeln sich feinere Lebensweise und Genussleben. Die elementaren Bedürfnisse der Menschen, Nahrung und Fortpflanzung, gehören so nicht länger dem Reich des Notwendigen, sondern der Sphäre des Angenehmen, Schönen und Menschlichen an: Essen und Trinken, Kleidung und Wohnung, Liebe und Freundschaft, Reise und Spiel.
Der Charakter der Deutschen steht nicht ein für alle Mal fest. Die Deutschen sind eine historisch gewachsene Gruppe, die Neues in sich aufnimmt. Man beschritt von jeher Wege der Verfeinerung, der Kultivierung und Entwicklung – Pfade, die in diesem Buch verfolgt werden, lange Strecken, einschließlich der Vor- und Frühgeschichte nördlich der Alpen, der Anfänge der Deutschen, der Wendepunkte, des Glücks, des Malheurs, der Möglichkeiten.
©Insel Verlag©
Literaturangabe:
SEITZ, ERWIN: Die Verfeinerung der Deutschen. Eine andere Kulturgeschichte. Mit 68 Schwarzweiß- und 32 Farbbildern. Insel Verlag, Berlin 2011. 823 S., 28 €.
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