Von Esteban Engel
BERLIN (BLK) - In der letzten Etappe seines Lebens hält ein Veteran sein Vermächtnis fest: „Wie lange noch bis zum Ende?“, fragt Stéphane Hessel zu Beginn seiner Streitschrift „Empört euch!“ („Indignez-vous!“). Mit 93 Jahren will der Franzose die Nachkommen teilhaben lassen an den Erfahrungen seines politischen Lebens, an den Lehren aus den Jahren als Kämpfer in der Résistance und den Lektionen vom Widerstand gegen die deutschen Besatzer.
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Auf knapp 20 Seiten hat Hessel einen Aufruf zur Rebellion gegen die sich „noch immer weiter öffnende Schere zwischen ganz arm und ganz reich“ geschrieben, ein antikapitalistisches Plädoyer für alte und neue Bürgertugenden. Mit seiner Flugschrift ist er in Frankreich ein Medienstar geworden. Binnen weniger Tage verkaufte ein kleiner Verlag mehr als eine Million Exemplare. An diesem Dienstag (8.2.) erscheint das Büchlein für knapp vier Euro in Deutschland in einer Erstauflage von 50.000 Stück – und auch hier wird Hessel wohl einen Nerv treffen.
Ob Stuttgart 21, Atomtransporte oder Dioxin-Skandal – für „Wutbürger“ hat es in den letzten Monaten auch in Deutschland genug Anlässe zur schlechten Laune gegeben. „Wir alle sind aufgerufen, unsere Gesellschaft so zu bewahren, dass wir stolz auf sie sein können“, ruft Hessel seinen verzagten Lesern zu. Wenn die Reichen die Medien beherrschen, die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnet, dann sei Widerstand angesagt. Nie sei die Macht des Geldes „so groß, so anmaßend, so egoistisch“ gewesen, wie heute.
Hessel, 1917 in Berlin geboren, als Jugendlicher mit seinen Eltern nach Frankreich ausgewandert, Überlebender des KZ Buchenwald und Diplomat, hat in Frankreich begeisterte Leser gefunden. Kein Wunder: Von der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 über Émile Zolas „J'acusse“ bis zum jüngsten Internet-Manifest „Der kommende Aufstand“ - in Frankreich werden Aufrufe zur Revolte stets begeistert goutiert.
Doch Hessel, Sohn des Dichters Franz Hessel (1880-1941), ist kein „Wutbürger“, der sich den Frust vom Leib schreibt, keiner, der in antimoderner Laune im Flugzeug bis an das Ende der Welt fliegen, aber gegen einen neuen Bahnhof zu Felde ziehen würde. Hessel treibt mehr an als Wut - es ist die Empörung, die er das Grundmotiv der Résistance nennt. „Wenn man sich über etwas empört, wie mich der Nazi-Wahn empört hat, wird man aktiv, stark und engagiert. Man verbindet sich mit dem Strom der Geschichte, und der große Strom der Geschichte nimmt seinen Lauf dank dem Engagement der Vielen.“
Hessels Text ist eine Symptombeschreibung. Er will eine Befindlichkeit artikulieren, keine Analyse liefern. Denn auch er spürt: „Boni-Banker und Gewinnmaximierer“ hätten zu viel Macht bekommen, eine neue Ethik sei notwendig. Aber anders als etwa in Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ oder im neuen Plädoyer für Erziehungsdrill der amerikanischen „Tigermutter“ Amy Chua, spekuliert Hessel nicht auf die Angst verunsicherter Wohlstandsbürger. Hessel schreibt gegen die Gleichgültigkeit an, getragen vom Optimismus eines freundlichen Menschenbildes.
Intellektuelle in Frankreich warfen dem Autor vor, keine Rezepte zu bieten. Tatsächlich erscheint der Rundumschlag manchmal arg blauäugig. Befunde wie „die Welt ist groß, wir spüren die Interdependenzen, leben in Kreuz- und Querverbindungen“ umreißen nur ungenügend eine zunehmend komplexe Globalgesellschaft.
Für richtigen Ärger sorgt aber das Kapitel zur Lage in Nahost. Als einziger Brandherd auf dem Planeten sucht sich Hessel den Konflikt zwischen Israel und Palästina aus, klagt auf der Grundlage des Gaza-Berichts des Juristen Richard Goldstone („selber Jude und bekennender Zionist“) den Staat Israel an, der die Palästinenser in einem Gefängnis unter freiem Himmel halte. Zwar ist für Hessel der Terrorismus von Hamas „inakzeptabel“. Doch wie Jean-Paul Sartre findet Hessel, dass man „die Bombenwerfer nicht entschuldigen, aber verstehen“ könne. Dennoch setzt er auf einen „Aufstand der Friedfertigkeit“.
Auf Drängen der jüdischen Gemeinde von Paris wurde eine Veranstaltung mit Hessel an der Pariser Eliteschule École Normale Supérieure (ENS) zu einer Kampagne gegen Israel abgesagt.
Mit dem Palästina-Teil bekommt Hessels Text eine seltsame Schlagseite. Weder Darfur noch Afghanistan, weder die Millionen Aids-Toten in Afrika noch die Lage in Haiti empören ihn so sehr, dass er sie für erwähnenswert hielte. Auch die Diagnose, das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sei wegen George W. Bush und der US-Intervention im Irak ein Rückschritt, bleibt merkwürdig einseitig. Doch vielleicht gehört zur richtigen Empörung eine radikale Parteilichkeit.