BERLIN (BLK) – Wenn Richard Sennett, einer der herausragenden Soziologen und Kulturphilosophen der Gegenwart, von Handwerk oder handwerklichem Können spricht, so meint er mehr als nur technische Praxis. Er beschreibt damit einen fundamentalen menschlichen Impuls, das Bestreben, eine Tätigkeit um ihrer selbst willen gut zu machen. Auch ein Arzt, Erzieher, Künstler oder Linux-Programmierer kann — und sollte — „sein Handwerk verstehen“. Indem er aus seinem stupenden interdisziplinären Wissen schöpft, zeigt Sennett auf, dass die Geschichte, insbesondere die Geistesgeschichte, eine markante Trennlinie zwischen Praxis und Theorie, Technik und Ausdruck, Macher und Nutzer gezogen hat. Unsere heutige Gesellschaft leidet noch immer unter diesem historischen Erbe, denn bei allem offenkundigen Materialismus haben wir paradoxerweise häufig ein gespaltenes Verhältnis zu den realen materiellen Dingen um uns herum. Die Frage, ob und wie wir uns dieser materiellen Wirklichkeit stellen wollen, besitzt für Sennett jedenfalls eine entscheidende ethische Relevanz.
Richard Sennetts neues Buch ist eine fulminante und breit angelegte Kulturgeschichte, die anhand zahlreicher Beispiele — von der Werkstatt eines Antonio Stradivari bis zu den Forschungslabors moderner Wirtschaftskonzerne — unser Verhältnis zur Außenwelt klug und kritisch durchleuchtet. Handwerk ist ein eindrückliches Plädoyer dafür, sich wieder auf die Welt der Dinge einzulassen. (Klappentext) (car/wip)
Leseprobe:
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Prolog
Der Mensch als Schöpfer seiner selbst
Die Büchse der Pandora
Hannah Arendt und Robert Oppenheimer
Kurz nach der Kubakrise im Jahr 1962, als dieWelt am Rande eines Atomkriegs stand, traf ich zufällig meine Lehrerin Hannah Arendt auf der Straße. Die Raketenkrise hatte sie wie uns alle erschüttert, sie aber auch in ihrer Überzeugung bestärkt. In ihrem Buch The Human Condition (Vita activa oder Vom tätigen Leben) hatte sie einige Jahre zuvor dargelegt, dass der Ingenieur oder jeder andere Hersteller materieller Dinge nicht Herr im eigenen Hause sei. Die Politik stehe über der physischen Arbeit und müsse ihr Leitlinien vorgeben. Zu dieser Überzeugung war sie gelangt, als das Los-Alamos-Projekt 1945 die erste Atombombe entwickelte. Und nun, während der Kubakrise, empfanden Amerikaner, die zu jung für den Zweiten Weltkrieg gewesen waren, erstmals selbst wirklich Angst. Auf der New Yorker Straße herrschte klirrende Kälte, doch Arendt kümmerte sich nicht darum. Sie wollte, dass ich die richtigen Schlüsse zog: Wenn Menschen Dinge herstellen, wissen sie meist nicht, was sie tun. Arendts Furcht vor selbstzerstörerischen materiellen Erfindungen reicht in der westlichen Kultur zurück bis zum Mythos der Pandora. Die Göttin der Erfindungsgabe wurde „vonZeus zur Erde hinabgeschickt, damit sie Prometheus für dessen Vergehen bestrafte Hesiod beschreibt Pandora in Werke und Tage als die „bittere Gabe aller Götter“, die, als sie den Krug (oder nach manchen Versionen die Büchse) mit all den Wunderdingen öffnete, „Übel und Plagen“ über die Menschen brachte.2 Mit der Weiterentwicklung ihrer Kultur erkannten die Griechen in Pandora zunehmend ein Element ihres eigenen Wesens: Die von Menschen gemachten Dinge, in denen die Kultur gründet, bargen die ständige Gefahr der Selbstschädigung. Etwas nahezu Unschuldiges im Menschen kann diese Gefahr heraufbeschwören: Menschen lassen sich von Staunen, Erregung und Neugier verführen und schaffen so die Illusion, das Öffnen der Büchse sei ein neutraler Akt. Im Blick auf die erste Massenvernichtungswaffe hätte Arendt auch eine Tagebucheintragung von Robert Oppenheimer zitieren können, der das Los-Alamos-Projekt geleitet hatte. Darin schreibt Oppenheimer wie zur Entschuldigung: „Wenn man etwas technisch Verlockendes sieht, macht man sich an die Arbeit und fragt sich erst später, wenn man technisch erfolgreich war, wie man damit umgehen soll. So war es auch bei der Atombombe.“ Der Dichter John Milton erzählte eine ähnliche Geschichte über Adam und Eva, als Allegorie auf die Gefahren der Neugier, wobei Eva die Rolle Oppenheimers übernahm. In Miltons christlicher Urszene verleitet nicht geschlechtliche Begierde, sondern der Hunger nach Erkenntnis die Menschen dazu, sich selbst zu schaden. Das Bild der Pandora wirkt auch in den Schriften des modernen TheologenReinholdNiebuhr fort, der bemerkt,zumWesen des Menschen gehöre auch der Glaube, alles, was möglich erscheine, müsse auch erprobt werden. Arendts Generation konnte die Furcht vor der Selbstzerstörung in Zahlen fassen, die jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigen. Mindestens siebzig Millionen Menschen hatten während der ersten fünfzig Jahre des 20. Jahrhunderts ihr Leben in Kriegen, Konzentrationslagern und Gulags verloren. In Arendts Augen standen diese Zahlen für eine Verbindung aus wissenschaftlicher Blindheit und bürokratischer Macht — der Macht von Bürokraten, die nur ihre Arbeit tun, verkörpert im Organisator der deutschen Vernichtungslager Adolf Eichmann, an dem sie den Gedanken der »Banalität des Bösen« exemplifizierte. Auch in Friedenszeiten bringt die materielle Zivilisation heute ähnlich erschreckende Zahlen auf dem Gebiet der Selbstzerstörung zustande. So benötigte die Natur eine Million Jahre, um die fossilen Treibstoffe zu erzeugen, die wir in einem einzigen Jahr verbrauchen. Die ökologische Krise ist gleichfalls von Menschen gemacht. Sie hat etwas von der Büchse der Pandora, und es könnte durchaus sein, dass Technologie ein schlechter Verbündeter bei dem Versuch ist, die Kontrolle zurückzugewinnen. Der Mathematiker Martin Rees beschreibt eine Revolution der Mikroelektronik, die zumindest die Gefahr einer Roboterwelt heraufbeschwören könnte, in der die Macht den Menschen vollends entgleitet. Dabei denkt er zum Beispiel an selbstreplizierende Mikroroboter, die eigentlich die Atmosphäre von Smog reinigen sollen, aber am Ende die ganze Biosphäre verschlingen.5 Ein aktuelleres Beispiel ist die gentechnische Veränderung von Pflanzen und Tieren.
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Literaturangaben:
SENNETT, RICHARD: Handwerk. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Berlin Verlag, Berlin 2008. 432 S., 22 €.
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