MÜNCHEN (BLK) – Im Hanser Verlag ist im Oktober 2011 der historische Roman „Der Friedhof in Prag“ des italienischen Schriftstellers Umberto Eco erschienen. Übersetzt wurde er von Burkhart Kroeber.
Klappentext: Der Italiener Simon Simonini lebt in Paris, und er erlebt aus nächster Nähe eine dunkle Geschichte: geheime Militärpapiere, die der jüdische Hauptmann Dreyfus angeblich an die deutsche Botschaft verkauft, piemontesische, französische und preußische Geheimdienste, die noch geheimere Pläne schmieden, Freimaurer, Jesuiten und Revolutionäre - und am Ende tauchen zum ersten Mal die Protokolle der Weisen von Zion auf, ein gefälschtes „Dokument“ für die „jüdische Weltverschwörung“, das dann fatale Folgen haben wird. Umberto Eco, der Meister des historischen Romans, erzählt die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, in der wir jedoch unser eigenes wiedererkennen können.
Umberto Eco wurde 1932 in Alessandria geboren. In Turin studierte er Pädagogik und Philosophie. 1954 schloss er sein Studium mit einer Dissertation über die Ästhetik des Thomas von Aquin ab. Anschließend arbeitete Eco beim italienischen Fernsehsender RAI und lehrte als freier Dozent an den Universitäten von Turin, Mailand und Florenz. Bis 2007 war er Professor für Semiotik an der Universität Bologna und gelangte durch „Der Name der Rose“ zu Weltruhm.
Leseprobe:
©Hanser©
8.
Die „Ercole“
Aus den Aufzeichnungen vom 30. und 31. März
und 1. April 1897
Es fällt dem Erzähler nicht eben leicht, diesen Wechselgesang zwischen Simonini und einem zudringlichen Abbé korrekt wiederzugeben, aber es scheint wirklich, dass Simonini am 30.März die letzten Ereignisse in Sizilien unvollständig rekonstruiert hat, und sein Text wird noch komplizierter durch viele geschwärzte Zeilen und andere, die mit einem X gelöscht, aber noch lesbar sind – und beunruhigend zu lesen. Am 31.März greift der Abbé Dalla Piccola wieder ein, um das hermetisch geschlossene Tor von Simoninis Gedächtnis zu öffnen und ihm zu enthüllen, woran er sich partout nicht erinnern will. Und am 1.April ist es wieder Simonini, der – nach einer unruhigen Nacht, in der er sich erinnert, Anfälle von Brechreiz gehabt zu haben – erbost die seiner Ansicht nach moralistischen Übertreibungen und Entrüstungen des Abbé richtigstellt. Somit erlaubt sich nun der Erzähler, ohne zu wissen, welchem der beiden er am Ende recht geben soll, die Ereignisse so zu berichten, wie er sie zu rekonstruieren vermocht hat, und natürlich übernimmt er die Verantwortung für seine Rekonstruktion.
Kaum in Turin eingetroffen, ließ Simonini seinen Bericht dem Cavaliere Bianco zukommen, und tags darauf erhielt er ein Billet, das ihn erneut zu spätabendlicher Stunde dorthin bestellte, von wo ihn eine Kutsche zu demselben Ort wie beim ersten Mal brachte, an dem ihn Bianco, Riccardi und Negri di Saint Front erwarteten.
„Avvocato Simonini“, begann Bianco, „ich weiß nicht, ob die Vertrautheit, die uns inzwischen verbindet, mir erlaubt, Ihnen meine Gefühle unverblümt auszudrücken, aber ich muss Ihnen sagen, Sie sind ein Dummkopf.“
„Cavaliere, wie können Sie…?“
„Er kann, er kann“, schaltete sich Riccardi ein, „und er spricht auch in unserem Namen. Ich würde sogar ergänzen, ein gefährlicher Dummkopf, so gefährlich, dass man sich fragen muss, ob es klug ist, Sie noch in Turin herumlaufen zu lassen mit solchen Ideen im Kopf.“
„Entschuldigen Sie, ich mag etwas falsch gemacht haben, aber ich verstehe nicht…“
„Sie haben nicht nur etwas, Sie haben alles falsch gemacht! Sind Sie sich darüber im klaren, dass in wenigen Tagen – das wissen inzwischen bereits die Klatschbasen – General Cialdini mit unseren Truppen in den Kirchenstaat eindringen wird? Sehr wahrscheinlich wird unser Heer in einem Monat vor den Toren Neapels stehen. Bis dahin werden wir eine Volksabstimmung veranlasst haben, durch die das Königreich beider Sizilien mit allen seinen Territorien offiziell dem Königreich Italien angeschlossen werden wird. Wenn Garibaldi der Realist und Gentleman ist, als den wir ihn kennen, dann wird er sich auch diesem Hitzkopf Mazzini widersetzt haben und die Lage bon gré mal gré akzeptieren, so wie sie ist, also die eroberten Gebiete in die Hände des Königs legen und als strahlender Patriot dastehen. Dann werden wir das garibaldinische Heer auflösen müssen, denn diese inzwischen sechzigtausend Mann starke Truppe sollte man lieber nicht ungezügelt herumlaufen lassen. Wir werden die Freiwilligen ins savoyische Heer aufnehmen und die anderen mit einer Abfindungsprämie nach Hause schicken. Lauter tapfere Jungs, lauter Helden. Und da wollen Sie, dass wir Ihren ruchlosen Bericht der Presse zum Fraß vorwerfen und damit sagen, dass diese Garibaldiner, die gerade dabei sind, unsere Soldaten und Offiziere zu werden, eine Horde von Schurken und Spitzbuben waren, noch dazu Ausländer, die Sizilien geplündert haben? Dass Garibaldi nicht der reinste und edelste aller Helden ist, dem ganz Italien dankbar sein muss und sein wird, sondern ein Abenteurer, der einen schlappen und gebrechlichen Feind besiegt, indem er ihn kauft? Und dass er bis zuletzt mit Mazzini konspiriert hat, um aus Italien eine Republik zu machen? Dass sein General Nino Bixio über die Insel gezogen ist, um Liberale zu erschießen und Hirten und Bauern zu massakrieren? Sie sind ja verrückt!“
„Aber Sie, meine Herren, Sie hatten mich doch beauftragt…“
„Wir hatten Sie nicht beauftragt, Garibaldi und die tapferen Italiener, die mit ihm gekämpft haben, zu diffamieren, sondern Dokumente zu finden, die beweisen, dass die republikanische Entourage des Helden die besetzten Gebiete schlecht verwaltet, um eine piemontesische Intervention zu rechtfertigen.“
„Aber meine Herren, Sie wissen doch, dass La Farina…“
„La Farina schrieb private Briefe an den Grafen Cavour, der sie bestimmt nicht öffentlich herumgezeigt hat. Außerdem ist La Farina eben La Farina, er hat nun mal eine persönliche Abneigung gegen Crispi. Und schließlich, was sind das für Phantastereien über das Gold der englischen Freimaurer?“
„Alle reden davon.“
„Alle? Wir nicht. Und überhaupt, was sollen das für Freimaurer sein? Sind Sie Freimaurer?“
„Ich nicht, aber…“
„Dann kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nichts angehen. Lassen Sie die Freimaurer, wo sie sind.“
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Offenbar hatte Simonini nicht begriffen, dass alle in der savoyischen Regierung Freimaurer waren, dabei hätte er das von den Jesuiten, die er von klein auf um sich gehabt hatte, wissen müssen. Aber schon legte Riccardi nach und fragte ihn, in welcher Geistesverwirrung er darauf verfallen sei, die Juden in seinen Bericht einzufügen.
Simonini stammelte: „Die Juden sind doch überall, und glauben Sie nicht…“
„Es geht nicht darum, was wir glauben oder nicht glauben“, unterbrach ihn Saint Front. „In einem geeinten Italien werden wir auch die Unterstützung der jüdischen Gemeinden brauchen, einerseits, und andererseits ist es unnötig, die guten italienischen Katholiken daran zu erinnern, dass unter den blütenreinen garibaldinischen Helden auch Juden waren. Kurzum, nach all den Fettnäpfchen, in die Sie getreten sind, hätten wir genügend Gründe, Sie zum frische Luft Atmen für ein paar Dutzend Jährchen in eine unserer bequemen Alpenfestungen zu schicken. Aber leider brauchen wir Sie noch. Wie es scheint, bleibt dort unten noch dieser Hauptmann Nievo, oder Oberst, wenn er es inzwischen geworden ist, mit allen seinen Kontobüchern, und wir wissen erstens nicht, ob er sie korrekt geführt hat, und zweitens, ob es politisch nützlich wäre, wenn seine Abrechnungen bekannt würden. Sie sagen uns, dass Nievo vorhat, uns diese Bücher zu übergeben, und das wäre gut, aber bevor sie bei uns ankommen, könnte er sie anderen zeigen, und das wäre schlecht. Deshalb werden Sie nach Sizilien zurückfahren, immer noch als Sonderkorrespondent der Zeitung des Abgeordneten Boggio, um über die wunderbaren neuen Ereignisse zu berichten, werden sich wie ein Blutsauger an Nievo heften und dafür sorgen, dass diese Kontobücher verschwinden, sich in Luft auflösen, in Rauch aufgehen, so gründlich und endgültig, dass niemand mehr von ihnen spricht. Wie Sie das erreichen, ist Ihre Sache, und Sie sind ermächtigt, alle Mittel zu benutzen – wohlgemerkt alle im Rahmen der Legalität, einen anderen Auftrag kann man von uns ja nicht erwarten. Cavaliere Bianco wird Ihnen eine Anweisung für die Bank von Sizilien ausstellen, damit Sie über das nötige Geld verfügen.”
Ab hier wird auch das, was Dalla Piccola enthüllt, lückenhaft und fragmentarisch, als ob auch er Mühe hätte, sich an das zu erinnern, was sein Gegenüber so sehr zu vergessen bemüht war.
Wie es jedenfalls aussieht, hatte Simonini, als er Ende September nach Sizilien zurückgekehrt war, sich bis zum März des folgenden Jahres dort aufgehalten, immer vergeblich bemüht, Nievos Kontobücher in die Hand zu bekommen, während Bianco ihn alle vierzehn Tage per Depesche mit wachsender Ungeduld fragte, wie weit er gekommen sei.
Der Grund war, dass Nievo sich jetzt mit Leib und Seele diesen gebenedeiten Kontobüchern widmete, immer mehr von übelwollenden Stimmen bedrängt, immer mehr bemüht, Tausende von Einnahmen zu untersuchen, zu prüfen, nach Fehlern zu durchkämmem, um sicher zu sein, dass alles stimmte, inzwischen mit großer Autorität ausgestattet, da auch Garibaldi viel daran lag, dass keine Skandale oder auch nur Gerüchte aufkamen, weshalb er ihm ein Büro mit vier Mitarbeitern zur Verfügung gestellt hatte, bewacht von zwei Wächtern, einer am Eingang und einer im Treppenhaus, so dass nicht daran zu denken war, etwa bei Nacht einzudringen und nach den Büchern zu suchen.
Ja, mehr noch, Nievo hatte zu verstehen gegeben, dass ihm der Verdacht gekommen war, einigen Leuten könnte seine Buchführung nicht gefallen, weshalb er fürchtete, dass die Bücher gestohlen oder zerstört werden könnten, und so hatte er sein Bestes getan, sie unauffindbar zu machen. Daher blieb Simonini nichts anderes übrig, als seine Freundschaft mit dem Dichter noch zu vertiefen (sie waren inzwischen zum kameradschaftlichen Du übergegangen), um wenigstens zu verstehen, was Nievo mit dieser verflixten Dokumentation zu tun beabsichtigte.
Sie verbrachten viele Abende zusammen in jenem noch von ungetrübten Hitzewellen durchwehten herbstlichen Palermo, manchmal Aniswasser schlürfend und wartend, dass sich die weiße Flüssigkeit langsam im Wasser auflöste wie eine Rauchwolke. Vielleicht weil er Sympathie für Simonini empfand, vielleicht auch, weil er sich mittlerweile als Gefangener dieser Stadt fühlte und das Bedürfnis hatte, mit jemandem zu phantasieren, ließ Nievo nach und nach seine militärische Wachsamkeit fahren und wurde vertraulicher. Er sprach von einer Liebe, die er in Mailand zurückgelassen hatte, einer unmöglichen Liebe, denn sie war die Frau nicht nur seines Vetters, sondern seines besten Freundes. Aber da war nichts zu machen, auch seine anderen Liebschaften hatten ihn zur Hypochondrie getrieben.
„So bin ich nun mal, so muss ich wohl bleiben. Ich werde immer grüblerisch, dunkel, düster und gallig sein. Ich bin jetzt dreißig und habe immer Krieg geführt, um mich von einer Welt abzulenken, die ich nicht liebe. Und so habe ich zu Hause einen großen Roman zurückgelassen, noch im Manuskript. Ich würde ihn gerne gedruckt sehen, aber ich kann mich nicht darum kümmern, weil ich diese blöden Kontobücher zu pflegen habe. Wenn ich ehrgeizig wäre, wenn ich vergnügungssüchtig wäre… Wenn ich doch wenigstens bösartig wäre… Wenigstens so wie Bixio. Aber nein, nichts da. Ich bleibe ein Kind, ich lebe in den Tag hinein, ich liebe die Bewegung, um mich zu bewegen, die Luft, um sie zu atmen. Ich werde sterben, um zu sterben… Und dann wird alles vorbei sein.“
Simonini versuchte nicht, ihn zu trösten. Er hielt ihn für unheilbar.
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Literaturangabe:
ECO, UMBERTO: Der Friedhof in Prag. Aus dem Italienischen übersetzt von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag, München 2011. 528 S., 26 €.
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