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Eine Epoche im Aufbruch

Das Mittelalter — einer Revision unterzogen

Von: ROLAND H. WIEGENSTEIN - © Die Berliner Literaturkritik, 15.07.09

Für den großen Immanuel Kant war das Mittelalter eine barbarische Epoche: „Während dieser Zeit ward die Religion zusamt den Wissenschaften und Sitten durch elende Fratzen entstellet“; für die Romantiker (und später für deutsche Nationalisten jeglicher Couleur) eine „utopische Traumzeit“, beides — so meint es der Mittelalter-Historiker Johannes Fried — werde jener Epoche von rund tausend Jahren, vom 6. bis zum 16. Jahrhundert, nicht gerecht. Er hält sogar den erst von der Geschichtswissenschaft nachträglich erfundenen Begriff des „Mittelalters“ für ein Konstrukt. Gleichwohl benutzt er ihn, um die Sicht auf diese Zeit einer gründlichen Revision zu unterziehen.

Nicht, dass er der Erste wäre, der die Legende vom „finsteren Mittelalter“, die immer noch in gelehrten und ungelehrten Köpfen nistet, infrage stellte, er tut es nur systematischer, genauer, facettenreicher, türmt Ereignisgeschichte, Sozial-, Kultur-, und Wissenschaftsgeschichte wie in einer raffiniert geschichteten Torte aufeinander und schneidet sie in bekömmliche Stücke. „Die Darstellung ist um einzelne Menschen zentriert, bald um einen Papst, bald um einen König, einen Gelehrten, Missionar oder wagenden Kaufmann. Ihre Begegnung mit Fremden, ihre Auseinandersetzung mit neuen Ideen, religiösen Bewegungen, Wissenschaften, ihre Handlungsspielräume, die Ausweitung ihrer Wissenskulturen werden im Rahmen politischer Machtkonstellationen und sich mehrender ‚internationaler’ Beziehungen, wachsender gesellschaftlicher Komplexität und funktionaler Ausdifferenzierung verfolgt.“

Wahrlich ein großes, riskantes Programm, das Fried auf über fünfhundert Seiten entfaltet. Und ein plausibles dazu, wenn man denn ernst nimmt, was für diesen Historiker im Mittelpunkt steht: die langsame, schwierige, von tausend Rückschlägen stets bedrohte Ausbreitung des „Lichts der Vernunft“ – so nennt er selbst das womöglich wichtigste Kapitel seines Buchs „Das Mittelalter – Geschichte und Kultur“. Er versucht Gleichzeitiges in einer erstaunlichen Anstrengung mittels konsekutiver Erzählformen dingfest zu machen.

So wird etwa das „lange Jahrhundert der Papstschismen“, das als dunkle Epoche gilt, als eines beschrieben, in dem sich gleichsam unter der Oberfläche endloser Kämpfe grundstürzend Neues entwickelt: von der „Wiederkehr der Stadtkultur“ bis zu den „Neuen Wissenschaften“ und der „geistigen Kultur“; so behandelt er unter der Überschrift „Triumph der Jurisprudenz“ nicht bloß die Ereignisgeschichte seit dem Staufer Friedrich II. und die Entwicklung in Italien, Frankreich, England, Spanien und Deutschland, sondern auch die Veränderung des Papsttums und den Beginn dessen, was später einmal „Hochfinanz“ heißen wird. Er sieht darin vor allem die Ausbreitung rechtsförmiger, kodifizierter Handlungen mit ihren weitreichenden Folgen nicht nur für die Entwicklung der Nationen, sondern ihres öffentlichen Bewusstseins.

Unter dem Rubrum „Die Monarchie“ wird der endgültige Zerfall des Imperiums und das Erstarken nationaler Mächte behandelt, zentriert um Philipp II. von Frankreich und den deutschen Kaiser Karl IV., der in Prag residierte — ihn, den oft Verkannten, betrachtet er als „europäischen Herrscher“. Aber damit sind wir schon bei Seite 394! Für Fried beginnt „Europa“ mit Anicius Manlius Severinus Boethius, denn ihm, dem vom barbarischen Gotenkönig Theoderich zum Tode verurteilten und hingerichteten Philosophen, „schuldet das Abendland den Aufbruch in seine Vernunftkultur“. Ein paar Bruchstücke aus Aristoteles „Organon“ (sein ganzes Buch war noch nicht bekannt) genügten Boethius, hinzuführen „auf das erlernbaren Regeln unterworfene, mithin überprüf-, korrigier-, und nachvollziehbare logische, dem Kausalitätsprinzip folgende Denken“, auch wenn dies erst im 10. Jahrhundert wirklich rezipiert werden sollte.

Bis dahin galt allein der „Trost der Philosophie“ als etwas, das wieder und wieder gelesen wurde. „Boethius schlug Themen an, die auf Jahrhunderte und über ein Jahrtausend die Christenheit bewegten, fort und fort variiert und weitergedacht wurden und die — wie etwa sein Verweis auf die Willensfreiheit — noch in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts nicht an Bedeutung verloren haben.“ Dies nur als besonders gelungenes Beispiel von Frieds Geschichtserzählung. Es gibt davon in diesem Buch viele, jedes einzelne Kapitel lehrt uns, tradierte Vorurteile zu prüfen und sich von ihnen zu verabschieden.

Immer wieder sind es solche Figuren, die ihn faszinieren, etwa die des Papstes Gregor des Großen (der von 590-604 auf dem Heiligen Stuhl saß), er hat die seit dem frühen Christentum verbreitete Endzeiterwartung (die dann das ganze Mittelalter hindurch immer wieder virulent wurde) kanalisiert, wollte ein christliches Nachfolgereich des antiken Rom errichten und hat mit seiner Kampagne für Bildung und Mission den Grundstein gelegt für die „intellektuelle Einheit des westlich-lateinischen Europa.“ Oder die Figur des Frankenkönigs und Kaisers Karl des Großen, der seine Konkurrenten blutig ausschaltete und das „Reich“ als „Königsmacht und Königsherrschaft“ begriff, seinen Untertanen eine begreifbare Organisation und eine entschiedene Bildungsreform verordnete. Auch in seinem Reich wurde Aristoteles zum Lehrmeister logischen Denkens. Dies alles, während die Eroberungsgeschichte weiterging. Fried schildert sie in ihren wichtigsten Stationen. Wie er überhaupt nie vergisst, das, was gerade „der Fall“ war, sei es Krieg, Frieden, Heirat oder seien es Bündnisse — und ihren Verrat —, treulich zu referieren.

Aber Fried interessiert vor allem, was diese Ereignisgeschichte auslöst und was sich darunter vollzieht. Und so geht es fort, es geht ihm um die Verklammerung von dynastischem Streit und religiösem Anspruch, von neuem Denken und dessen häufiger Abweisung — bis hin zum Scheiterhaufen. So wird mancher Kaiser, König und Herzog nur eben erwähnt und mit Jahreszahlen geht Fried eher etwas sorglos um (manchmal nennt er sie, manchmal vertraut er wohl darauf, dass seine Leser den „großen Ploetz“ bei der Hand haben), aber anderen Gestalten widmet er ausführliche Würdigungen, etwa dem großen Abaelard, dem er mehr Raum gönnt als etwa Thomas von Aquin.

Wilhelm von Ockham, den „Nominalisten“, hält er für wichtiger als die ganze langsam erstarrende Hochscholastik. Er setzt die Akzente dessen, was die Schulweisheit uns als „Mittelalter“ aufnehmen ließ, immer wieder anders. So kommen die Stauferkaiser Friedrich I. und Friedrich II. nicht eben gut weg, ungeachtet ihrer persönlichen Statur (vor allem die von Friedrich II., dessen Organisationstalent, Bildung, Kunstsinnigkeit Fried natürlich schätzt), gelten sie ihm als die Totengräber des von ihnen doch beanspruchten Reichs, als die, die in der Mitte Europas das verhinderten, was später Nationalstaat hieß. Als „Politiker“ machen sie keine gute Figur. So wenig wie die meisten Päpste. Fried gilt als sicher, dass die Fortschritte Europas eher in den dunklen Zeiten des Schismas erreicht wurden als in Zeiten ungekränkter Macht des Bischofs von Rom.

Immer wieder sind es die ersten Anzeichen des Neuen, auf die er hinweist, etwa die Rolle der Bettlerorden und die Entwicklung städtischer Gemeinschaften, die „Globalisierung“ des Handels — und mit ihm die Erfahrung neuer Wirklichkeiten — , die handwerklichen und baulichen Veränderungen, die neue Lebenshaltungen ermöglichten, die Kunst, die ebenso als sich wandelnde, Leben und Denken verändernde Kraft begriffen wird. Er widmet den Fortschritten der Wissenschaft, der Philosophie wie den Naturwissenschaften lange, kluge Exkurse, beleuchtet das Entstehen eines aufgeschriebenen Rechts, dem sich auch die Mächtigen zu beugen hatten. Nicht immer natürlich: Was als „Gesetz“ in der Welt war, musste ja nicht unbedingt befolgt werden. Aber mochte es auch immer wieder gebrochen werden: Es war im Bewusstsein der Menschen, selbst der Mächtigen unter ihnen. Der Weg der „Reformen“ war allweil mühevoll. Er verfolgt den Einfluss jüdischen Denkens, etwa der Kabbala, und muslimischer Vorstellungen (und der Rolle, die islamische Gelehrte bei der Rettung der antiken Philosophie gespielt haben), er zeigt den Einfluss des platonischen Denkens auf die frühe Renaissance und macht gleichzeitig klar, dass dieses für die Entwicklung des „Lichts der Vernunft“ eine kleinere Rolle gespielt hat als der Streit in den hochmittelalterlichen Hohen Schulen mit ihrer differenzierten Dialektik.

Für Fried ist Europa, das sich im Mittelalter ausbildete, eine Einheit aus lauter Widersprüchen, die nie zur Ruhe kamen und doch etwas schufen, was es in keinen anderen Erdteil gegeben hat: die unendliche Neugier auf neue Erfahrungen. Immer wieder gab es Rückfälle, Machtgier, Aberglauben, den kriegerischen Herrschaftsanspruch der Mächtigen und die Strategien, ihn zu unterlaufen: in gescheiten Theorien und in den in aller Regel vergeblichen Aufständen derer, die keine Macht hatten.

Dennoch: „Der Gebrauch der Vernunft verdankte sich nicht erst jener Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts … sie setzte Jahrhunderte früher, bald ein Jahrtausend vor Kant, am Hof Karls des Großen ein, intensivierte sich im 10. Jahrhundert, steigerte sich durch fortgesetzte kulturelle Rückkopplung und gestattete dem Königsberger, sich von den Schultern ihm fremder Riesen herab umzusehen und weiter zu denken.“ Frieds Fazit: „Das Mittelalter war in eminentem Maße schöpferisch. Es entdeckte und betrat den Weg in die Welt, es war Aufbruch und Fortschreiten zur Moderne.“ Diesen Weg nachzuvollziehen, ist selbst ein faszinierendes geistiges Abenteuer und dieser Historiker dabei ein zuverlässiger Führer.

Literaturangabe:

FRIED, JOHANNES: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur. Verlag C. H. Beck, München 2008. 606 S. mit 70 Abb., 29,90 €.

Weblink:

Verlag C. H. Beck

Roland H. Wiegenstein arbeitet als freier Literatur- und Kunstkritiker für dieses Literaturmagazin. Er lebt in Berlin und Italien


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