MÜNCHEN (BLK) – Der Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ des israelischen Schriftstellers David Grossman ist im August 2009 im Carl Hanser Verlag erschienen. Er wurde von Anne Birkenhauer aus dem Hebräischen übersetzt.
Klappentext: Ora erzählt: von ihrer Liebe zu zwei Männern, von Wut und Zärtlichkeit, Verzweiflung und Leidenschaft und von ihrem Sohn Ofer, der sich freiwillig für einen Militäreinsatz im Westjordanland meldet. Seine Mutter hofft, das drohende Unglück zu bannen, indem sie ihrem Jugendfreund Avram, der im Jom-Kippur-Krieg selbst Soldat war, von Ofers Vorhaben berichtet. Und unerreichbar zu sein, falls das Schreckliche geschieht ... Autor und Friedensaktivist David Grossman spiegelt die großen Fragen in den kleinen Erlebnissen des Alltags. Er zeigt, wie in Israel das Schicksal der Menschen unauflöslich mit Politik verbunden ist. Ein mitreißendes, unvergessliches Buch und ein Protest gegen den Krieg.
David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und arbeitet seit vielen Jahre als Redakteur beim Rundfunk. 1979 veröffentlichte er seine ersten Erzählungen. Heute gehört Grossman zu den bedeutendsten Schriftstellern der israelischen Gegenwartsliteratur. Bei Hanser erschienen zuletzt „Diesen Krieg kann keiner gewinnen“ (2003), „Das Gedächtnis der Haut“ (2004), „Die Kraft zur Korrektur“ (2008) und „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ (2009). Während er diesen Roman schrieb, fiel sein zweiter Sohn in den letzten Tagen des Libanon-Krieges. 2008 erhielt Grossman den Geschwister-Scholl-Preis. (kum/ros)
Leseprobe:
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Das war kurz bevor er vier wurde, zwei oder drei Monate vorher, sagt sie. Ich war gerade dabei, Mittagessen zu kochen. Damals lernte ich im letzten Jahr Physiotherapie, und Ilan hatte schon seine eigene Kanzlei, es war eine völlig verrückte Zeit, aber immerhin hörten die Vorlesungen an zwei Tagen der Woche früher auf, und so konnte ich Ofer direkt vom Kindergarten abholen und ihm etwas kochen – sag, interessiert dich das wirklich …
Avram lacht in sich hinein, und seine Lider röten sich. Auf diese Art …
Was? Sag schon.
Spähe ich heimlich in euer Leben.
Ja? Dann späh nicht heimlich, sondern schau richtig hin. Alles steht dir offen.
Auf dem Gipfel von Keren Naftali, auf einem Teppich von Zyklamen und Anemonen, liegen sie verschwitzt und atemlos von dem steilen Aufstieg. Das war bisher das Schwerste, da sind sie sich einig, und sie stürzen sich auf die Waffeln und Kekse. Bald müssen sie einkaufen, erinnern sie einander. Avram steht auf und zeigt ihr, wie viel er in diesen Tagen abgenommen hat, und freut sich ungläubig, dass er das erste Mal eine Nacht durchgeschlafen hat, vier Stunden am Stück ohne Tabletten, kannst du dir das vorstellen? Der Ausflug tut dir gut, sagt sie, die Diät, das Laufen, die frische Luft. Ich fühl mich wirklich nicht schlecht, wundert er sich und wiederholt seine Worte wie einer, der aus sicherem Versteck ein schlafendes Raubtier reizt.
Hinter ihnen die Trümmer behauener Steine, Reste eines arabischen Dorfes oder eines alten Tempels. Avram, der vor kurzem einen Artikel darüber gesehen hat, denkt, die Art der Behauung stamme aus römischer Zeit, und Ora teilt diese Annahme gern. Ich hab jetzt keine Kraft für die Überreste eines arabischen Dorfes, sagt sie. Doch in einem kurzen Moment der Halluzination setzt sich aus den Steinen der Ruine ein Panzer zusammen, der, durch eine enge Gasse bretternd, als Projektion in ihrem Kopf auftaucht, und bevor er ein parkendes Auto plattwalzt oder eine Häuserwand abrasiert, fuchtelt sie mit den Händen vor ihren Augen und wehrt sich, genug, genug, meine Festplatte ist voll von solchen Bildern.
Ausladende Pistaziensträucher wiegen sich im sanften Wind. Nicht weit von ihnen ein eingezäunter kleiner Militärstützpunkt, von dem Antennen in den Himmel ragen. Ein gutaussehender äthiopischer Soldat, schwarz wie eine Schachfigur, steht unbeweglich auf einem Aussichtsturm und überblickt das Hulatal zu ihren Füßen, vielleicht schaut er auch mal heimlich zu ihnen rüber, für etwas Abwechslung beim Wacheschieben. Ora streckt sich, lässt den Wind ihre Haut kühlen, und auch Avram streckt die Beine von sich, auf einen Ellbogen gestützt siebt er mit den Fingern die Erde
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Literaturangabe:
GROSSMAN, DAVID: Eine Frau flieht vor einer Nachricht. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser Verlag, München 2009. 736 S., 24,90 €.
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