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Eine grausige Entdeckung in Schweden führt nach China

Henning Mankells Thriller „Der Chinese“

© Die Berliner Literaturkritik, 16.05.08

 

WIEN (BLK) – Am 24. Mai 2008 erscheint Henning Mankells neuer Roman „Der Chinese“ im Paul Zsolnay Verlag.

Klappentext: An einem frostigen Januartag 2006 macht die Polizei von Hudiksvall eine grausige Entdeckung. In einem kleinen Dorf ist ein Massaker begangen worden, achtzehn Menschen wurden auf bestialische Weise getötet. Die Polizei vermutet die Tat eines Wahnsinnigen. Als Richterin Birgitta Roslin von der Tat liest, wird ihr sofort klar, dass ihre Adoptiveltern August und Britta Andrén unter den Mordopfern sind. Und mehr noch: So gut wie alle Ermordeten haben etwas mit ihr zu tun. Sie erkennt, dass die Polizei eine falsche Spur verfolgt, und beginnt zu recherchieren. Ihre Suche führt sie nach China, wo sie auf die grausamen Machenschaften der politischen Führungselite stößt. „Der Chinese“ ist ein Thriller auf höchstem Niveau. Er hat nicht nur eine atemberaubende Handlung, sondern erzählt auch davon, was passiert, wenn ein Land zur wirtschaftlichen Supermacht wird, während im Inneren ein System politischer Unterdrückung herrscht.

Henning Mankell, 1948 geboren und in Härjedalen aufgewachsen, lebt als Theaterregisseur und Autor abwechselnd in Schweden und in Maputo/Mosambik. Neben den berühmten Wallander-Krimis erschienen bei Zsolnay unter anderem der Kriminalroman „Die Rückkehr des Tanzlehrers“ (2002) und der Afrika-Roman „Der Chronist der Winde“ (2000). (car/wip)

 

Leseprobe:

© Paul Zsolnay Verlag ©

Teil 1

Die Stille

 

1

An einem der ersten Januartage 2006 geht ein Wolf durch das Vauldal von Norwegen über die Grenze nach Schweden. Der Fahrer eines Schneescooters glaubt, ihn in der Nähe von Fjällnäs gemerkt zu haben, doch der Wolf verschwindet in östlicher Richtung in den Wäldern, bevor jemand sieht, wohin er sich wendet. Tief in den norwegischen Österdalar hatte er ein Stück gefrorenen Elchkadaver gefunden, an dem noch nicht alle Knochen abgenagt waren. Doch das ist über achtundvierzig Stunden her. Jetzt ist er wieder hungrig und auf Nahrungssuche.

Es ist ein junger Wolfsrüde, der sich auf die Wanderung begeben hat, um ein eigenes Revier zu suchen. Er zieht unbeirrt weiter nach Osten. Bei Nävjarna, nördlich von Linsell, findet er einen weiteren Elchkadaver. Einen Tag lang bleibt er liegen und frisst sich satt, bevor er weiterzieht. Unentwegt nach Osten. Bei Korböle läuft er über den gefrorenen Ljusnan und folgt dann dem Fluss auf seinem gewundenen Weg zum Meer. In einer mondhellen Nacht überquert er auf lautlosen Pfoten die Brücke bei Järvsö und wendet sich dann seitwärts in die großen Waldgebiete, die sich zum Meer hin erstrecken.

Früh am Morgen des 13. Januar erreicht der Wolf Hesjövallen, ein kleines Dorf auf der Südseite des Hansesjö in Hälsingland. Er bleibt stehen und nimmt Witterung auf. Irgendwoher kommt Blutgeruch. Der Wolf blickt um sich. In den Häusern leben Menschen. Aber es steigt kein Rauch aus den Schornsteinen. Sein scharfes Gehör nimmt auch kein Geräusch wahr.

Doch der Blutgeruch ist da, kein Zweifel. Der Wolf wartet am Waldrand. Versucht zu wittern, woher der Geruch kommt. Dann läuft er langsam durch den Schnee. Der Geruch zieht von einem der Häuser herüber, das am Rand des kleinen Dorfes liegt. Er ist jetzt auf der Hut, in der Nähe von Menschen gilt es, vorsichtig und geduldig zu sein. Wieder hält er inne. Der Geruch kommt von der Rückseite des Hauses. Der Wolf wartet. Schließlich bewegt er sich. Als er zu dem Haus kommt, sieht er den frischen Kadaver. Er zieht die schwere Beute zum Waldrand. Noch hat niemand ihn entdeckt, nicht einmal Hunde bellen. Das Schweigen an diesem kalten Morgen ist vollkommen.

Am Waldrand beginnt der Wolf zu fressen. Es geht leicht, weil das Fleisch noch nicht gefroren ist. Er ist jetzt sehr hungrig. Nachdem er einen Lederschuh von einem Fuß gezerrt hat, beginnt er, das Bein von unten her abzunagen. In der Nacht hat es geschneit, danach hat es aufgehört. Während der Wolf frisst, fallen wieder leichte Schneeflocken auf den gefrorenen Boden.

 

2

Beim Erwachen erinnerte sich Karsten Höglin daran, dass er von einem Bild geträumt hatte. Er lag im Bett und fühlte den Traum langsam zurückkehren, als schickte das Negativ des Traums ihm eine Kopie ins Bewusstsein. Er kannte das Bild. Es war schwarzweiß und zeigte einen Mann dar, auf einem alten Eisenbett saß, an der Wand hing ein Jagdgewehr, und zu seinen Füßen stand ein Nachttopf. Als er es zum ersten Mal gesehen hatte, war er vom wehmütigen Lächeln des alten Mannes angerührt worden. Er hatte etwas Scheues und Abwartendes an sich. Viel später hatte Karsten erfahren, was im Hintergrund des Bildes verborgen war. Der Mann hatte, einige Jahre bevor das Bild aufgenommen wurde, seinen einzigen Sohn bei einer Wasservogeljagd erschossen. Seitdem hing das Gewehr dort an der Wand, und der Mann war immer sonderlicher geworden.

Von den Tausenden von Bildern und Negativen, die er gesehen hatte, war dies eins, das er nie vergessen würde, dachte Karsten Höglin. Er wünschte, er hätte es selbst aufgenommen.

Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte halb acht. Im Normalfall wachte Karsten Höglin sehr früh auf. Aber er hatte in dieser Nacht schlecht geschlafen, und die Matratze war durchgelegen. Er nahm sich vor, sich zu beschweren, wenn er die Hotelrechnung bezahlte und abfuhr. Es war der neunte und letzte Tag seiner Reise. Er arbeitete an einer Dokumentation über verlassene Dörfer und von der Entvölkerung bedrohte Ortschaften, und ein Stipendium hatte ihm die Reise ermöglicht.

Jetzt befand er sich in Hudiksvall und hatte noch ein Dorf zu fotografieren. Dass er genau dieses Dorf gewählt hatte, lag an einem alten Mann, der von seiner Dokumentation gelesen und ihm in einem Brief von dem Ort erzählt hatte, an dem er selbst lebte. Der Brief hatte Karsten Höglin beeindruckt, sodass er beschloss, seine Fotoreise dort zu beenden.

Er stand auf und zog die Gardine zur Seite. Es hatte in der Nacht geschneit. Es war grau, am Horizont war noch keine Sonne zu sehen. Eine dick verpackte Frau radelte unten auf der Straße vorbei. Karsten blickte ihr nach und fragte sich, wie kalt es sein mochte. Minus fünf Grad, vielleicht minus sieben. Nicht mehr.

Er zog sich an und fuhr mit dem langsamen Aufzug nach unten. Seinen Wagen hatte er auf dem Innenhof des Hotels geparkt. Dort stand er sicher. Die Fototaschen nahm er trotzdem immer mit aufs Zimmer. Sein schlimmster Alptraum war, eines Tages vor seinem Wagen zu stehen und zu entdecken, dass seine Fototaschen fort waren.

An der Rezeption war eine junge Frau, fast noch ein Teenager. Er sah, dass sie nachlässig geschminkt war, und ließ den Gedanken fallen, sich über das Bett zu beschweren. Er würde doch nie wieder in dieses Hotel zurückkommen.

Im Frühstücksraum saßen nur wenige Gäste, über ihre Zeitungen gebeugt. Einen Moment lang fühlte er sich versucht, eine Kamera herauszuholen und ein Bild dieses von Schweigen erfüllten Frühstücksraums zu machen. Irgendwie vermittelte es ihm den Eindruck von einem Schweden, das immer schon so ausgesehen hatte. Schweigende Menschen, über Zeitungen und Kaffeetassen gebeugt, jeder mit seinen eigenen Gedanken, seinem eigenen Schicksal befasst.

Er gab den Gedanken auf, schenkte sich Kaffee ein, machte sich zwei belegte Brote und nahm ein weich gekochtes Ei. Weil keine Zeitung mehr für ihn da war, aß er schnell. Es widerstrebte ihm, allein an einem Tisch zu sitzen und zu essen, ohne etwas zu lesen zu haben. Draußen war es kälter, als er erwartet hatte. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute auf das Thermometer neben dem Fenster der Rezeption. Elf Grad unter Null. Außerdem noch fallend, dachte er. Der Winter bisher war viel zu warm gewesen. Jetzt kommt die Kälte, auf die wir so lange gewartet haben.

Er stellte die Taschen auf den Rücksitz, ließ den Motor an und begann, die Windschutzscheibe freizukratzen. Auf dem Sitz lag eine Straßenkarte. Am Tag zuvor hatte er darauf den Weg zu dem letzten Ort gesucht, als er nach dem Fotografieren in einem Ort in der Nähe des Hasselasjö eine Pause gemacht hatte. Zuerst würde er die Hauptstraße nach Süden nehmen und bei Iggesund in Richtung Sörforsa abbiegen. Dann gab es zwei Möglichkeiten, er konnte östlich oder westlich vom See fahren, der abwechselnd Storsjön oder Långsjön hieß. Diese Straße war schlecht, wie er an einer Tankstelle an der Einfahrt nach Hudiksvall erfahren hatte. Dennoch beschloss er, sie zu nehmen. Es würde schneller gehen. Und es war ein schönes Licht an diesem Wintermorgen. Er konnte sich schon den Rauch aus den Schornsteinen vorstellen, der senkrecht zum Himmel aufstieg. Er brauchte vierzig Minuten. Da hatte er sich einmal verfahren und war auf eine Straße eingebogen, die nach Süden führte, nach Näcksjö.

Hesjövallen lag in einem kleinen Tal an einem See, an dessen Namen Karsten sich nicht erinnerte. Vielleicht Hesjön? Die dichten Wälder reichten bis an den Rand des Dorfs, das an dem zum See hin abfallenden Hang lag, auf beiden Seiten der Landstraße, die nach Hälsingland hinaufführte.

Karsten hielt am Eingang des Dorfs und stieg aus dem Wagen. Die Wolkendecke war aufgerissen. Das Licht würde ihm Probleme bereiten, es würde auch weniger ausdrucksvoll sein. Er blickte sich um. Die Häuser lagen, wo sie lagen, es war sehr still. In der Ferne hörte er Autos auf der Hauptstraße vorbeifahren.

Eine leichte Beklemmung befiel ihn. Er hielt den Atem an, wie immer, wenn er nicht richtig wusste, was er vor sich hatte.

Dann sah er, was es war. Die Schornsteine. Sie waren kalt. Der Rauch fehlte, der einen so guten Effekt auf den Bildern abgegeben hätte. Langsam ließ er den Blick über die Häuser zu beiden Seiten der Straße gleiten. Jemand hat den Schnee beiseite geräumt, dachte er.

Aber niemand ist aufgestanden und hat Feuer in Herden und Öfen gemacht. Er dachte an den Brief von dem Mann, der ihm von diesem Dorf erzählt hatte. Darin war von den Schornsteinen die Rede gewesen und davon, und wie die Häuser einander auf kindliche Art und Weise Rauchsignale sandten.

Er seufzte. Man bekommt Briefe, dachte er. Die Leute schreiben nicht, was wahr ist, sondern etwas anderes, wovon sie glauben, man wolle es lesen. Jetzt kann ich die kalten Schornsteine fotografieren.

Oder sollte er die ganze Angelegenheit fallenlassen? Es zwang ihn ja niemand dazu, Hesjövallen und seine Einwohner zu fotografieren. Er hatte schon genug Bilder von dem Schweden, das im Begriff war, zu entschwinden, von den Einödhöfen, von den entlegenen Dörfern, die manchmal von Deutschen oder Dänen gerettet wurden, die die Höfe zu Sommerhäusern umbauten, oder die einfach verfielen und von der Erde verschluckt wurden.

Er beschloss, wieder abzufahren, und stieg in den Wagen. Aber seine Hand zögerte am Zündschlüssel. Wenn er schon so weit gefahren war, konnte er wenigstens ein paar Porträts von Dorfbewohnern machen. Trotz allem suchte er Gesichter. In seinen Jahren als Fotograf war Karsten Höglin mehr und mehr von alten Menschen gefesselt worden. Ein geheimer Auftrag, den er sich selbst gegeben hatte, lief darauf hinaus, ein Buch mit Porträts von Frauen zusammenzustellen, bevor er die Kameras endgültig weglegte. Seine Bilder würden von der Schönheit erzählen, die man nur in den Gesichtern von sehr alten Frauen finden konnte. Greisinnen, denen ihr Leben mit all seinen Mühen in die Haut eingeritzt war, wie Sedimentablagerungen in einer Felswand.

Karsten Höglin suchte immer nach Gesichtern, besonders denen alter Menschen.

Er stieg wieder aus, zog die Pelzmütze über die Ohren, griff nach einer Leica M 8, die ihn schon seit zehn Jahren begleitete, und ging auf das nächstgelegene Haus zu. Es gab etwa zehn Wohnhäuser im Ort, die meisten waren rot, einige hatten ausgebaute Eingänge. Er sah nur einen einzigen Neubau, wenn er denn als Neubau bezeichnet werden konnte, denn es war ein Haus aus den 1950er Jahren. Als er zum Gartentor kam, blieb er stehen und hob die Kamera. Das Schild verriet, dass hier Familie Andrén lebte. Er machte ein paar Aufnahmen, änderte Blende und Belichtungszeit und suchte unterschiedliche Perspektiven. Immer noch zu grau, dachte er. Vermutlich wird es einfach nur verschwommen. Aber man weiß nie. Fotograf zu sein heißt, zuweilen unerwartete Geheimnisse aufzudecken.

Karsten Höglin arbeitete oft rein intuitiv. Nicht dass er darauf pfiff, die Belichtungszeit zu messen, wenn es nötig war. Aber manchmal war es ihm gelungen, überraschende Ergebnisse zu erzielen, weil er die Belichtungszeit nicht genau bestimmt hatte. Improvisation war ein Teil seiner Arbeit. Einmal hatte er in Oskarshamn ein Segelschiff unter Segeln auf Reede gesehen. Es war ein klarer Tag mit scharfer Sonne gewesen. Kurz bevor er das Bild machte, kam er auf die Idee, die Linse anzuhauchen. Als er das Bild entwickelte, segelte ein Geisterschiff aus dem Nebel. Er hatte damals mit dem Bild einen wichtigen Preis gewonnen. Er vergaß die beschlagene Linse nie.

Das Tor war schwergängig. Er musste sich anstrengen, um es aufzuschieben. Im Neuschnee waren keine Fußspuren zu sehen. Noch immer kein Laut, dachte er, nicht einmal ein Hund hat mich entdeckt. Als wären alle plötzlich verschwunden. Dies ist kein Dorf, es ist ein Fliegender Holländer.

Er stieg die Vortreppe hinauf und klopfte an die Haustür, wartete, klopfte noch einmal. Kein Hund, keine miauende Katze, nichts. Jetzt kamen ihm Bedenken. Etwas war eindeutig nicht in Ordnung. Er klopfte noch einmal, diesmal fest und lange. Dann drückte er die Klinke herunter. Die Tür war verschlossen. Alte Menschen sind ängstlich, dachte er. Sie schließen sich ein, weil sie fürchten, all das, wovon sie in den Zeitungen lesen, könnte ihnen zustoßen.

Er schlug an die Tür, doch niemand reagierte. Er sagte sich, dass das Haus leer sein musste.

Er ging durchs Gartentor hinaus zum Nachbarhaus. Es war inzwischen heller geworden. Das Haus war gelb. Der Fensterkitt war schlecht, es zog bestimmt im Haus. Bevor er klopfte, drückte er die Türklinke herunter. Auch diese Tür war verschlossen. Er hämmerte gegen die Tür, bevor überhaupt jemand hätte antworten können.

Auch hier schien niemand zu Hause zu sein.

Von neuem beschloss er, den Plan aufzugeben. Wenn er sich jetzt ins Auto setzte und losfuhr, wäre er am frühen Nachmittag zu Hause in Piteå. Seine Frau Magda würde sich freuen. Sie fand, dass er zu alt war für die Reiserei, obwohl er gerade einmal dreiundsechzig Jahre alt war. Aber er hatte undeutliche Symptome einer beginnenden Angina gehabt. Der Arzt hatte ihm geraten, auf seine Ernährung zu achten und sich soviel wie möglich zu bewegen.

Doch er fuhr nicht nach Hause. Stattdessen ging er auf die Rückseite des Hauses und versuchte es an einer Tür, die in eine Waschküche zu führen schien. Auch die war verschlossen. Er ging zum einem Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute hinein. Durch einen Spalt in der Gardine sah er in ein Zimmer mit einem Fernseher. Er ging weiter zum nächsten Fenster. Es war dasselbe Zimmer, er sah wieder den Fernseher. ‚Jesus ist dein bester Freund’ stand auf einem gestickten Wandbehang. Als er schon weitergehen wollte, fiel sein Blick auf etwas, was auf dem Fußboden lag. Zuerst hielt er es für ein Wollknäuel. Dann sah er, dass es eine gestrickte Socke war und dass sie an einem Fuß saß. Er trat einen Schritt vom Fenster zurück. Sein Herz pochte. Hatte er richtig gesehen? War es wirklich ein Fuß? Er kehrte zum ersten Fenster zurück, doch von dort konnte er nicht weit ins Zimmer hineinsehen. Dann ging er wieder an das zweite Fenster. Jetzt war er sicher. Es war ein Fuß. Ein regloser Fuß. Ob er einem Mann oder einer Frau gehörte, konnte er nicht sagen. Vielleicht saß die Person, der der Fuß gehörte, in einem Sessel. Aber es konnte auch sein, dass sie auf dem Boden lag.

Er klopfte ans Fenster, so hart er zu klopfen wagte. Nichts geschah. Es holte sein Handy aus der Tasche und gab die Nummer des Notrufs ein. Das Netz war so schwach, dass er keinen Kontakt bekam. Er lief hinüber zum dritten Haus und klopfte an die Tür. Auch hier öffnete niemand. Er fragte sich, ob er sich in einer Landschaft befand, die sich in einen Alptraum verwandelte. Neben der Tür lag ein eiserner Fußkratzer. Er setzte ihn am Schloss an und brach die Tür auf. Sein einziger Gedanke war, ein Telefon zu finden. Als er ins Haus stürzte, erkannte er zu spät, dass der gleiche Anblick, der eines toten Menschen, ihm auch hier begegnen würde. Auf dem Fußboden in der Küche lag eine alte Frau. Ihr Kopf war fast ganz vom Hals getrennt. Neben ihr lag ein Hund, der in zwei Teile gespalten war.

Karsten Höglin schrie auf und wandte sich ab, um das Haus so schnell wie möglich zu verlassen. Vom Hausflur aus sah er einen Mann auf dem Wohnzimmerfußboden zwischen dem Tisch und einem roten Sofa mit weißem Überwurf. Der alte Mann war nackt. Sein Rücken war von Blut bedeckt.

Karsten Höglin lief aus dem Haus. Er wollte nur weg. Beim Laufen verlor er seine Kamera, machte sich aber nicht die Mühe, sie aufzuheben. In ihm wuchs die Furcht, ein Wesen, das er nicht sehen konnte, würde hinterrücks auf ihn einschlagen. Er wendete den Wagen und fuhr davon.

Erst als er auf die Hauptstraße gekommen war, hielt er an und drückte mit zitternden Fingern die Nummer des Notrufs. Im selben Augenblick, in dem er das Handy ans Ohr hob, traf ihn ein gewaltiger Schmerz in der Brust. Als hätte trotz allem jemand ihn eingeholt und ihm ein Messer in den Körper gestoßen.

Eine Stimme am Telefon sprach zu ihm. Aber er konnte nicht antworten. Der Schmerz war so gewaltig, dass nichts als ein Röcheln aus seiner Kehle drang.

„Ich kann nichts hören“, sagte eine Frauenstimme.

Er versuchte es erneut. Wieder nur ein Röcheln. Er war im Begriff zu sterben.

„Können Sie lauter sprechen?“ fragte die Frau. „Ich verstehe Sie nicht.“

Mit äußerster Mühe brachte er ein paar Worte heraus.„Ich sterbe“, röchelte er. „Lieber Gott, ich sterbe. Helfen Sie mir.“

„Wo sind Sie?“

© Paul Zsolnay Verlag ©

Literaturangaben:
MANKELL, HENNING: Der Chinese. Roman. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2008. 608 S., 24,90 €.

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