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Eine Kindheit im „Mittelalter“

Luis Buñuels Autobiografie

© Die Berliner Literaturkritik, 30.04.09

BERLIN (BLK) – Buñuel war einer der bedeutendsten Filmregisseure des letzten Jahrhunderts, der die Frühzeit des Films miterlebt hat und selbst zur künstlerischen Avantgarde der 20er/30er Jahre gehörte. Kurz vor seinem Tod 1983 erschien Buñuels Autobiographie „Mon dernier soupir“, die der Drehbuchautor Jean-Claude Carrière nach langen Gesprächen mit dem Regisseur aufgezeichnet hatte. Hier erzählt er, welche seiner Filme er besonders liebte, wie sie entstanden und wie unterschiedlich sie aufgenommen wurden. Er reflektiert über seine Befindlichkeit im Alter, über von ihm bevorzugte Bars und Drinks, über Freundschaften, über sein Verhältnis zur Kommunistischen Partei, über Erotik, Sexualität und sein Verhältnis zum Tod. „Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben, wie eine Intelligenz ohne Ausdrucksmöglichkeit keine Intelligenz wäre. Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nichts.“ Luis Buñuel

Luis Buñuel (22. 2. 1900 – 29. 7. 1983) war einer der großen Regisseure des 20. Jahrhunderts. Er arbeitete mit Salvador Dalí und der Pariser Surrealisten-Gruppe um André Breton zusammen. 1928 drehte er mit Dalí seinen ersten eigenen Film „Der andalusische Hund“, der wegen seiner schockierenden Szenen Aufsehen erregte. Den Höhepunkt seines internationalen Ruhms erreichte Buñuel mit „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“, für den er 1972 den Oscar erhielt.

 

Leseprobe:

©Alexander Verlag©

 

ERINNERUNGEN AN DAS MITTELALTER

 

Mit dreizehn Jahren bin ich zum ersten Mal aus der Provinz Aragonien herausgekommen. Als Gast bei Freunden meiner Eltern, die den Sommer in Vega de Pas bei Santander im Norden Spaniens verbrachten, entdeckte ich, als ich das Baskenland durchquerte, voller Begeisterung eine völlig neue Landschaft, das genaue Gegenteil dessen, was ich bis dahin gekannt hatte. Ich sah Wolken, Regen, Wälder im Nebel, feuchtes Moos auf Steinen. Ein köstlicher Eindruck, den ich mir immer bewahrt habe. Dem Norden gilt meine dauernde Zuneigung, der Kälte, dem Schnee, den reißenden Gebirgsbächen. Der Boden Niederaragoniens ist fruchtbar, aber staubig und entsetzlich trocken. Ein Jahr, ja zwei konnten vergehen, ohne daß man am unbewegten Himmel eine Wolke hätte dahinsegeln sehen. Wenn sich zufällig eine vorwitzige Haufenwolke über den Bergen zeigte, klopften die Nachbarn, Angestellte eines Lebensmittelladens, bei uns an, denn unser Haus hatte auf dem Dach einen kleinen Aussichtsturm. Von dort aus beobachteten sie stundenlang, wie die Wolke sich langsam näherte, und sagten dann ganz traurig unter Kopfschütteln: „Südwind. Sie zieht vorüber.“ So war es dann auch. Die Wolke entfernte sich, ohne der Erde einen einzigen Regentropfen gegönnt zu haben. In einem Jahr, in dem die Trockenheit beängstigende Ausmaße erreicht hatte, veranstaltete die Bevölkerung des Nachbardorfes Castelceras mit den Pfarrern an der Spitze einen Bittgang – una rogativa –, um vom Himmel einen Regenguss zu erflehen. Finstere Wolken zogen an jenem Tag über das Dorf. Die Prozession schien fast überflüssig. Leider verzogen die Wolken sich vor dem Ende der Prozession, und die glühende Sonne trat wieder hervor. Darauf bemächtigten sich üble Elemente, wie es sie in jedem Dorf gibt, der Muttergottesstatue, die dem Zug vorangetragen wurde, und als er eine Brücke überquerte, warfen sie sie in den Fluß, den Guadalope. Von meinem Dorf, in dem ich am 22. Februar 1900 geboren wurde, kann man behaupten, daß dort das Mittelalter bis zum Ersten Weltkrieg gedauert hat. Eine isolierte, starre Gesellschaft, von scharfen Klassengegensätzen geprägt. Der Respekt den Großgrundbesitzern gegenüber, die Unterordnung der arbeitenden Bevölkerung unter die Herren schienen unwandelbar, tief verwurzelt in uralten Gewohnheiten. Gelenkt von den Glocken der Virgen del Pilar, der Schutzpatronin Spaniens, verlief das Leben horizontal, immer gleich, ein für allemal geregelt. Die Glocken riefen zu den religiösen Zeremonien – Messen, Vesper, Angelus –, verkündeten aber ebenso die besonderen Ereignisse des Alltagslebens, die Totenglocke und das besondere Geläut, der toque de agonía, das Sterbegeläut. War ein Bewohner des Ortes an den Pforten des Todes angekommen, schlug langsam eine Glocke für ihn, eine große, tiefe und ernste Glocke beim letzten Kampf eines Erwachsenen, eine kleine Glocke aus hellerer Bronze beim Sterben eines Kindes. Auf den Feldern, Wegen und Straßen blieben die Leute stehen und fragten sich: „Wer wohl stirbt?“ Ich erinnere mich auch an die Sturmglocke, wenn es brannte, und an das erhabene Feiertagsläuten. Calanda zählte weniger als fünftausend Einwohner. Es war ein großes Dorf in der Provinz Teruel, das dem durchreisenden Touristen nichts Besonderes zu bieten hatte, achtzehn Kilometer von Alcañiz entfernt. In Alcañiz hielt der Zug von Saragossa. Drei Pferdewagen warteten auf uns am Bahnhof. Der größte war die jardinera. Die galera war ein Planwagen. Und dann gab es noch einen kleinen zweirädrigen Karren. Da wir eine mehrköpfige Familie waren, viel Gepäck hatten und von Dienstboten begleitet wurden, paßten wir kaum in die drei Wagen. Etwa drei Stunden brauchten wir, unter praller Sonne, für die achtzehn Kilometer bis Calanda, aber ich kann mich nicht erinnern, daß ich mich bei diesen Fahrten je eine Minute gelangweilt hätte. Außer zum Pilarfest und zu den Märkten im September kamen selten Fremde nach Calanda. Jeden Mittag, etwa um halb eins, tauchte in einer Staubwolke, von einem Muligespann gezogen, die Postkutsche aus Macán auf. Sie beförderte die Post und manchmal auch einen Handlungsreisenden. Vor 1919 hat man im Dorf kein Auto gesehen. Der erste Autobesitzer hieß Don Luis González, er war ein liberaler, moderner und sogar antiklerikal gesinnter Mann. Doña Trinidad, seine Mutter, war eine Generalswitwe und entstammte einer Adelsfamilie aus Sevilla. Ihre verfeinerte Lebensart ließ sie das Opfer von Indiskretionen ihrer Dienstboten werden. Bei ihren intimen Waschungen bediente sie sich nämlich einer skandalösen Einrichtung, die die züchtigen und empörten besseren Damen Calandas mit einer weit ausholenden, eher die Form einer Gitarre umschreibenden Geste bezeichneten. Wegen dieses Bidets vermieden sie eine Zeitlang den Umgang mit Doña Trinidad. Dieser Don Luis González spielte eine entscheidende Rolle, als die Weinstöcke von Calanda von der Reblaus befallen wurden. Die Stöcke waren verloren, aber die Bauern weigerten sich hartnäckig, sie auszureißen und durch amerikanische Rebsorten zu ersetzen, wie es sonst überall in Europa geschah. Ein Agronom, der eigens aus Teruel gekommen war, stellte im großen Saal des Rathauses ein Mikroskop auf, durch das man die Schädlinge beobachten konnte. Aber auch das wirkte nicht. Die Bauern weigerten sich weiterhin, die Stöcke zu ersetzen. Darauf riß Don Luis, um ein Exempel zu statuieren, die seinen alle heraus. Er bekam Morddrohungen und ging nur noch mit dem Gewehr in der Hand in seine Weinberge. Der kollektive Starrsinn, typisch aragonisch, wurde nur sehr langsam bezwungen. Aus Niederaragonien kommt das beste Olivenöl Spaniens, vielleicht der ganzen Welt. Die Ernte, in manchen Jahren üppig, wurde gefährdet durch die Trockenheit, die nicht selten die Bäume entblätterte. Jedes Jahr gingen einige Bauern aus Calanda, die als bedeutende Spezialisten galten, nach Andalusien, in die Provinzen Córdoba und Jaén, um die Bäume zu schneiden. Zu Beginn des Winters begann man, die Oliven zu pflücken, und während der Arbeit sangen die Bauern die Jota Olivarera. Während die Männer auf Leitern standen und mit Stöcken in die von Früchten schweren Zweige schlugen, lasen die Frauen die Oliven vom Boden auf. Die Jota Olivarera ist weich und melodiös, zart – jedenfalls in meiner Erinnerung. Sie steht in einem seltsamen Widerspruch zur wilden Kraft des aragonischen Volksgesangs im allgemeinen. Ein anderes Lied aus der Zeit bleibt für immer in meiner Erinnerung, auf halbem Weg zwischen Schlummer und Wachen. Ich glaube, heute kennt man es nicht mehr, denn die Melodie wurde von Generation zu Generation nur mündlich überliefert und nie aufgeschrieben. Es hieß „Das Lied der Morgenröte“. Vor Tagesanbruch lief eine Gruppe junger Burschen durch die Straßen, um die Erntearbeiter zu wecken, die sich in aller Herrgottsfrühe an die Arbeit machen mußten. Vielleicht leben heute noch einige von diesen „Weckern“ und erinnern sich der Melodie und des Textes, damit dieser Gesang nicht einfach verschwindet, ein großartiges Lied, halb religiös, halb weltlich, aus einer lang vergangenen Zeit. Während der Erntezeit weckte es mich mitten in der Nacht auf, dann schlief ich wieder ein. In der übrigen Zeit des Jahres wiegte ein Nachtwächterpaar, mit Laterne und einem kleinen Stab ausgestattet, uns in den Schlaf: „Gelobt sei Gott – alabado sea Dios“, rief der eine. Darauf antwortete der andere: „Gelobt in Ewigkeit – sea por siempre alabado.“ Aber sie sagten auch: „Elf Uhr, wolkenlos – las once, sereno“, viel seltener, welch freudige Überraschung: „Bedeckt – nublado“, und manchmal, o Wunder: „Lloviendo – es regnet!“ Calanda hatte acht Ölmühlen. Eine wurde sogar schon hydraulisch betrieben, aber die anderen funktionierten noch genauso wie zur Zeit der Römer: Ein schwerer kegelförmiger Stein, von Pferden oder Mulis gezogen, zermahlte die Oliven auf einem zweiten Stein. Nichts schien sich ändern zu müssen. Die gleichen Gesten, die gleichen Wünsche übertrugen sich vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter. Ganz undeutlich nur hörte man vom Fortschritt reden, der in weiter Ferne vorbeizog wie die Wolken.

Der Tod, der Glaube, der Sex

Jeden Freitagmorgen setzte sich nach und nach etwa ein Dutzend Männer und Frauen fortgeschrittenen Alters unserem Haus gegenüber an die Kirchenmauer. Es waren die Ärmsten der Armen, los pobres de solemnidad. Einer unserer Dienstboten ging zu ihnen und gab jedem ein Stück Brot, das sie ehrfürchtig küßten, und einen Groschen, ein großzügiges Almosen, verglichen mit dem „Pfennig pro Bart“, den die anderen Reichen des Ortes zu geben pflegten. In Calanda hatte ich meine erste Begegnung mit dem Tod, der, zusammen mit einem tiefen Glauben und dem Erwachen des sexuellen Instinkts, zu den drei Triebkräften meiner Knabenzeit gehörte. Eines Tages ging ich mit meinem Vater in einem Olivenhain spazieren, als der Wind einen süßlichen, widerlichen Geruch herantrug. Ein paar hundert Meter weiter gab ein fürchterlich aufgequollener und zerrissener toter Esel das Festmahl für ein Dutzend Geier und Hunde ab. Das Schauspiel zog mich an und stieß mich zugleich ab. Die Vögel waren so vollgefressen, daß sie kaum noch fliegen konnten. Die Bauern begruben die toten Tiere nicht, weil sie meinten, daß die Verwesung dem Boden guttäte. Ich war fasziniert von diesem Anblick, und es stieg in mir die Ahnung von einer metaphysischen Bedeutung jenseits der verwesten Materie auf. Mein Vater nahm mich beim Arm und zog mich weg. Ein andermal bekam einer unserer Schäfer bei einem albernen Streit ein Messer in den Rücken und starb – in ihrer breiten Schärpe, der faja, hatten die Männer immer ein scharfes Messer stecken. Die Autopsie wurde in der Friedhofskapelle vom Dorfarzt unter der Assistenz des Barbiers durchgeführt. Noch vier oder fünf Personen, Freunde des Arztes, waren dabei. Ich hatte es auch geschafft hineinzukommen. Die Schnapsflasche ging von Hand zu Hand, und auch ich trank beklommen, um mir Mut zu machen, wenn die Säge knirschend den Schädel öffnete oder wenn die Rippen, eine nach der anderen, gebrochen wurden. Schließlich mußte man mich volltrunken nach Hause bringen, und ich wurde von meinem Vater hart bestraft, wegen meiner Trunkenheit und wegen meines „Sadismus“. Bei der Beerdigung einfacher Leute wurde der Sarg vor die offene Kirchentür gestellt. Die Priester sangen. Ein Vikar ging um den schmalen Katafalk herum, besprengte ihn mit Weihwasser, warf eine Schaufel Asche auf den Leichnam und hob einen Moment das Tuch hoch, das ihn bedeckte – in der Schlußszene von Cumbres borrascosas, nach Emily Brontës Roman Sturmhöhe, habe ich mich dieser Geste erinnert. Die tiefe Glocke schlug das Totengeläut an. Sobald die Männer begannen, den Sarg auf den Schultern zum Friedhof kurz vor dem Dorf zu tragen, ertönten die herzzerreißenden Schreie der Mutter: „Ach, mein Sohn, du läßt mich allein! Nie werde ich dich wiedersehen!“ Die Schwestern des Verstorbenen, andere weibliche Familienmitglieder, manchmal auch Nachbarinnen und Freundinnen, fielen in die Klagen der Mutter ein und bildeten den Chor der plañideras, der Klageweiber. Unentwegt spürte man die Gegenwart des Todes, er gehörte zum Leben wie im Mittelalter. Ebenso der Glaube. Wir waren zutiefst im römischen Katholizismus verwurzelt, und nicht einen Augenblick lang hätten wir dessen universelle Wahrheit in Frage gestellt. Ich hatte einen sehr sanften und lieben Onkel, der Priester war. Wir nannten ihn tío Santos, Onkel Santos. Im Sommer brachte er mir Latein und Französisch bei. In der Kirche war ich sein Meßdiener, und ich gehörte auch zum Kirchenchor der Virgen del Carmen. Wir waren sieben oder acht. Ich spielte Geige und einer meiner Freunde Kontrabaß, der Rektor der Escolapios in Alcañiz, einer kirchlichen Schule, spielte Violoncello. Zusammen mit gleichaltrigen Sängern sind wir gut zwanzigmal aufgetreten. Mehrmals wurden wir in das Karmeliter-, später Dominikanerkloster eingeladen, das am Ausgang des Dorfes lag. Es war gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts von einem gewissen Forton gegründet worden, einem Einwohner Calandas, Ehemann einer aristokratischen Dame aus der Familie der Cascajares. Ein stolzes, gottesfürchtiges Paar, das kein einziges Mal die tägliche Messe versäumte. Später, zu Beginn des Bürgerkrieges, wurden die Dominikaner des Klosters erschossen. Calanda hatte zwei Kirchen und sieben Pfarrer. Dazu kam tío Santos, der nach einem Jagdunfall, bei dem er in einen Abgrund gestürzt war, von meinem Vater als Verwalter seiner Güter beschäftigt wurde. Die Allgegenwart der Religion zeigte sich in allen Einzelheiten des Lebens. Ich zum Beispiel las zum Vergnügen auf dem Speicher unseres Hauses meinen Schwestern die Messe. Ich hatte verschiedene Meßgeräte aus Blei, ebenso eine Stola und ein Meßgewand.

Das Wunder von Calanda

Unser Glaube war so blind – jedenfalls bis wir vierzehn waren –, daß es uns nicht in den Sinn gekommen wäre, das berühmte Wunder von Calanda, das sich im Jahr des Heils 1640 ereignet hatte, anzuzweifeln. Das Wunder wurde der Virgen del Pilar zugeschrieben, die so genannt wird, weil sie in den fernen Zeiten der Besetzung des Landes durch die Römer dem heiligen Jacobus auf einer Säule in Saragossa erschien. Die Virgen del Pilar, die Schutzpatronin Spaniens, ist eine der beiden großen spanischen Mariengestalten, die andere ist natürlich die von Guadalupe, die Schutzpatronin Mexikos, die meiner Meinung nach aber bei weitem nicht an sie heranreicht. 1640 wurde also einem Bewohner Calandas, Miguel Juan Pellicer, von einem Karrenrad ein Bein zerquetscht und mußte amputiert werden. Es war ein sehr frommer Mann, und so kam er täglich in die Kirche, um seinen Finger ins Öl der Lampe zu tauchen, die vor der Muttergottes brannte, und sich damit seinen Stumpf einzureiben. Eines Nachts stiegen die Muttergottes und die Engel vom Himmel und machten ihm ein neues Bein. Wie alle Wunder – sonst wären es ja keine – wird auch dieses von zahlreichen theologischen und medizinischen Kapazitäten der Zeit bezeugt. Es löste eine blühende Ikonographie aus und war Gegenstand vieler Bücher. Ein großartiges Wunder, neben dem mir die Mirakel der Heiligen Jungfrau von Lourdes kläglich erscheinen. Ein Mann, „dessen Bein tot und begraben war“, bekommt ein heiles Bein zurück! Mein Vater spendete der Gemeinde von Calanda einen prächtigen paso, eines jener Bildnisse, die bei Prozessionen mitgetragen werden und die die Anarchisten während des Bürgerkrieges verbrannten. Man erzählte im Dorf – und es gab unter uns niemanden, der diese Geschichte angezweifelt hätte –, daß König Philipp IV. persönlich gekommen sei, um das von den Engeln wieder angesetzte Bein zu küssen. Man möge bitte nicht glauben, ich übertriebe, wenn ich von den Rivalitäten der verschiedenen Marien rede. Zu der Zeit, von der ich erzähle, hielt in Saragossa ein Priester eine Predigt, in der er über die Verdienste der Jungfrau von Lourdes sprach, aber sofort hinzufügte, daß sie natürlich geringer zu werten seien als die der Jungfrau von Pilar. Der versammelten Gemeinde gehörten aber auch ein Dutzend Französinnen an, die als Lehrerinnen oder Vorleserinnen in den vornehmen Familien Saragossas lebten. Sie waren von den Äußerungen des Priesters schockiert und beschwerten sich beim Erzbischof – Soldevilla Romero, der einige Jahre später von den Anarchisten niedergemacht wurde. Die Französinnen konnten es nicht ertragen, daß ihre berühmte Gottesmutter herabgesetzt wurde. In Mexiko habe ich um 1960 einem französischen Dominikaner das Wunder von Calanda erzählt. Er lächelte und sagte: „Jetzt übertreiben Sie aber ein bißchen, mein Lieber.“ Tod und Glaube. Ihre Allgegenwart und Macht. Im Kontrast dazu war die Lebensfreude umso stärker. Die Vergnügen, stets ersehnt, gewannen an Intensität, wenn es gelang, sie zu befriedigen. Hindernisse verstärkten die Freude nur noch. Trotz meines aufrichtigen Glaubens konnte nichts meine ungeduldige sexuelle Neugier beruhigen und ein ständiges, zwanghaftes Verlangen. Mit zwölf Jahren glaubte ich noch, die Kinder kämen aus Paris, aber nicht vom Storch gebracht, sondern einfach im Zug oder im Auto, bis ein zwei Jahre älterer Kamerad – auch er wurde später von den Republikanern erschossen – mich in das große Geheimnis einweihte. Damit begannen, wie bei allen Knaben in der ganzen Welt, die Diskussionen, die Vermutungen, die ungenauen Auskünfte, das Erlernen der Onanie, anders ausgedrückt, das Leben unter der Fuchtel der Sexualität. Die höchste Tugend, lehrte man uns, ist die Keuschheit. Sie ist unerläßlich für ein ehrbares Leben. Die harten Schlachten, die der Trieb der Keuschheit lieferte, auch wenn es nur um Gedankensünden ging, luden bedrückende Schuldgefühle auf uns. Die Jesuiten sagten uns zum Beispiel: „Wißt ihr, weshalb Christus nicht geantwortet hat, als Herodes ihn fragte? Weil Herodes ein Lüstling war und unser Heiland vor seinem Laster einen abgrundtiefen Abscheu empfand.“ Warum dieser Abscheu vor der Sexualität in der katholischen Religion? Ich habe mich das oft gefragt. Wahrscheinlich gibt es alle möglichen Gründe, theologische, historische, moralische und auch soziale. In einer hierarchisch geordneten Gesellschaft kann der Sex, der keine Grenzen und kein Gesetz respektiert, jederzeit ein Faktor der Unordnung und eine wirkliche Gefahr werden. Zweifellos haben deshalb einige Kirchenväter und der heilige Thomas von Aquin auf dem undurchsichtigen und bedrohlichen Gebiet des Fleisches eine so auffallende Strenge gezeigt. Thomas ging so weit zu glauben, daß auch der Liebesakt zwischen Ehegatten fast immer eine fleischliche Sünde sei, da man die Wollust nie ganz aus dem Geist verbannen könne. Die Wollust ist aber von Natur aus schlecht. Das Verlangen, die Lust sind notwendig, denn Gott hat es so gewollt, aber jedes Bild der Wollust – die nichts anderes ist als die Lust um ihrer selbst willen –, jeder unreine Gedanke sollten aus dem Werk des Fleisches verbannt werden zugunsten einer einzigen Idee: dieser Erde einen neuen Diener Gottes zu schenken. Es ist klar, das habe ich schon oft gesagt, daß dieses unerbittliche Verbot ein Gefühl der Sünde schafft, das etwas Köstliches sein kann. Das war bei mir lange der Fall. Ebenso habe ich aus Gründen, die ich nicht durchschaue, im sexuellen Akt immer eine Verwandtschaft mit dem Tod verspürt, eine geheimnisvolle, aber stets vorhandene Beziehung. Ich habe sogar versucht, dieses unerklärliche Gefühl in Bilder zu übersetzen – in Un Chien andalou (Ein andalusischer Hund), wenn der Mann die nackten Brüste der Frau streichelt und sich ihr Gesicht plötzlich in einen Totenkopf verwandelt. Liegt das daran, daß ich in meiner Kindheit und Jugend Opfer der heftigsten Unterdrückung alles Sexuellen gewesen bin, die die Geschichte gekannt hat? Die jungen Leute von Calanda, die es sich leisten konnten, gingen zweimal im Jahr nach Saragossa ins Bordell. Einmal, das war aber schon 1917, engagierte ein Café in Calanda zum Fest der Virgen del Pilar mehrere camareras, Kellnerinnen, die für ihre leichten Sitten bekannt waren. Zwei Tage lang widerstanden sie dem unausgesetzten derben Pokneifen der Gäste – pizcos auf aragonisch –, dann gaben sie es auf und gingen. Sie konnten nicht mehr. Natürlich taten die Gäste nichts anderes als kneifen. Hätten sie sich mehr herausgenommen, wäre sofort die Guardia Civil eingeschritten. Dieses abscheuliche Vergnügen, um so reizvoller natürlich, als man es uns als Todsünde hinstellte, versuchten wir uns zu vergegenwärtigen, indem wir mit den kleinen Mädchen Doktor spielten oder Tiere beobachteten. Einer meiner Schulkameraden versuchte sogar, Einblick ins Intimste einer Stute zu gewinnen, mit dem Ergebnis, daß er von der Leiter fiel, auf der er gehockt hatte. Zum Glück hatten wir nicht die leiseste Ahnung davon, daß es so etwas wie Sodomie gab. Im Sommer, während der Siesta, wenn die Hitze am drückendsten war und nur die Fliegen in den leeren Straßen summten, trafen wir uns in einem halbdunklen Stoffladen, bei verschlossenen Türen und zugezogenen Vorhängen. Der Mann, der den Laden führte, lieh uns dann ein paar „erotische“ Zeitschriften – weiß Gott, wie sie den Weg dorthin gefunden hatten –, die Hoja de parra zum Beispiel und die K.D.T., deren Darstellungen ein gewisser Realismus auszeichnete. Diese damals verbotenen Magazine erscheinen einem heute von engelhafter Unschuld. Allenfalls konnte man gerade einen Bein- oder Busenansatz erkennen, was aber schon ausreichte, um unser Verlangen zu wecken und uns zu Vertraulichkeiten hinzureißen. Die strikte Trennung zwischen Männern und Frauen tat noch ein übriges, um unsere unentwickelten Triebe zu entflammen. Noch heute glaube ich, wenn ich an meine ersten sexuellen Empfindungen denke, den Geruch von Stoffen um mich herum wahrzunehmen. In San Sebastián, als ich dreizehn oder vierzehn war, bot sich uns durch die Badekabinen noch eine andere Möglichkeit, uns zu informieren. Diese Kabinen waren durch Holzwände zweigeteilt. Es war nicht schwer, in eins der Abteile hineinzukommen und die Damen auf der anderen Seite durch ein Loch in der Trennwand beim Auskleiden zu beobachten. Damals waren jedoch Damenhüte mit langen Nadeln in Mode, und die Damen, die sich beobachtet wußten, stachen mit diesen Nadeln durch die Löcher, ohne Rücksicht darauf, daß sie ein neugieriges Auge treffen konnten – in Él (Er) habe ich auf diese Erinnerung zurückgegriffen. Um uns vor den Nadeln zu schützen, brachten wir Glasstückchen in den Löchern an. Zu den Freigeistern Calandas gehörte auch einer der beiden Ärzte, Don Leoncio – wenn ihm unsere Gewissensprobleme zu Ohren gekommen wären, hätte er sich sicher totgelacht. Er war ein unbeugsamer Republikaner. Seine Praxis war über und über tapeziert mit farbigen Seiten aus der Monatszeitschrift El Motín, einem anarchistischen und wild antiklerikalen Blatt, das damals in Spanien viel gelesen wurde. An eine der Zeichnungen kann ich mich noch erinnern. Zwei Geistliche, gut im Futter, sitzen auf einem Karren. Zwischen dessen Deichseln eingespannt, schwitzt Christus mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht. Der Bericht von einer Demonstration in Madrid, bei der Arbeiter einige Priester schwer hergenommen, Passanten verletzt und Schaufensterscheiben eingeworfen hatten, las sich in El Motín etwa so: „Gestern nachmittag ging eine Gruppe von Arbeitern ruhig die Calle de la Montera entlang, als sie sahen, wie ihnen auf der anderen Seite zwei Priester entgegenkamen. Angesichts dieser Provokation …“ Ich zitiere diesen Artikel gern als Beispiel für „Provokation“.

 

Nach Calanda kamen wir nur in der Karwoche und in den Sommerferien – bis 1913, als ich den Norden entdeckte und San Sebastián. Das von meinem Vater gebaute Haus zog die Neugierigen an. Sogar aus den Nachbarorten kamen Leute, um es sich anzusehen. Es war im Geschmack der Zeit möbliert und ausgestattet, jenem „schlechten Geschmack“, für den die Kunstgeschichte sich neuerdings zu interessieren beginnt und dessen brillantester Vertreter in Spanien der große Katalane Gaudí war. Wenn die Haupttür des Hauses geöffnet wurde, um jemanden rein-oder rauszulassen, sah man auf den Stufen immer ein paar acht-bis zehnjährige arme Kinder sitzen oder stehen, die mit großen Augen in das „luxuriöse“ Innere blickten. Meistens trugen sie noch einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester auf dem Arm, mit Fliegen in den Augen- oder in den Mundwinkeln, die niemand wegscheuchte. Die Mütter dieser Kinder arbeiteten auf den Feldern, wenn sie noch nicht heimgekehrt waren, um Kartoffeln und Bohnen zu kochen, die ewig gleiche Grundnahrung der Landarbeiter. Kaum drei Kilometer vor dem Ort, an einem Fluß, ließ mein Vater ein Landhaus bauen, das La Torre genannt wurde. Rundherum legte er einen Garten mit Grün und Obstbäumen an, der sich bis zu einem Weiher erstreckte, auf dem ein Kahn lag, und weiter bis zum Fluß. Ein kleiner Bewässerungskanal lief durch den Garten, in dem der Wächter das Gemüse anbaute. Fast jeden Tag begab sich die ganze Familie – mindestens zehn Personen – in zwei jardineras nach La Torre. Unser Wagen voll glücklicher Kinder begegnete auf dem Weg dahin nicht selten irgendeinem mageren, zerlumpten Kind mit einem unförmigen Korb, in dem es Pferdeäpfel sammelte, mit denen sein Vater seine paar Quadratmeter Gemüsegarten düngte. Diese Bilder der Armut ließen uns – so kommt es mir heute vor – völlig gleichgültig. Oft speisten wir im Garten von La Torre beim sanften Schein von Petroleumlampen üppig zu Abend und kehrten erst spät in der Nacht heim. Ein geruhsames Leben ohne Bedrohung. Wenn ich zu denen gehört hätte, die den Boden mit ihrem Schweiß begossen und Pferdeäpfel aufsammelten, welche Erinnerungen hätte ich dann an diese Zeit? Wir waren zweifellos die letzten Vertreter einer sehr alten Lebensordnung. Es gab kaum Handel. Man lebte mit den Jahreszeiten. Das Denken blieb unverändert. Die Erzeugung von Öl war die einzige Industrie des Landes. Von draußen kamen Stoffe, Metallgegenstände, Medikamente – oder vielmehr die Grundprodukte dafür, die der Apotheker dann nach dem Rezept des Arztes verarbeitete. Das örtliche Handwerk entsprach den gegebenen Bedürfnissen: ein Schmied, ein Kesselflicker, Töpfer und Maurer, ein Sattler, ein Bäcker, ein Weber. Die Landwirtschaft war halbfeudal geblieben. Der Grundbesitzer ließ den Boden von einem Pächter bewirtschaften, der die Hälfte der Ernte ablieferte. Ich habe noch ein paar Photographien aus den Jahren 1904 und 1905, die ein Freund der Familie aufgenommen hat. Es sind Reliefbilder, die man damals durch einen besonderen Apparat betrachtete. Da ist mein Vater, ziemlich mächtig, mit dickem, weißem Schnurrbart und fast immer mit einem Panama, seltener einmal mit einer Kreissäge. Da ist meine Mutter mit vierundzwanzig, braungebrannt und lächelnd, wie sie aus der Messe kommt und von den Dorfnotabeln begrüßt wird. Dann mein Vater und meine Mutter mit einem Sonnenschirm oder meine Mutter auf einem Esel – das Photo nannten wir immer „die Flucht nach Ägypten“. Ich, als Sechsjähriger, mit anderen Kindern in einem Maisfeld. Und Wäscherinnen, Bauern bei der Schafschur, meine Schwester Conchita – noch ganz klein, zwischen den Beinen meines Vaters, wie er mit Don Macario redet –, mein Großvater, der seinem Hund zu fressen gibt, ein besonders schöner Vogel im Nest. Heute sieht man in Calanda freitags keine Armen mehr vor der Kirche sitzen und um Brot betteln. Das Dorf ist relativ wohlhabend, die Leute leben ganz gut. Schon lange verschwunden ist die Tracht, der breite Gürtel, der cachirulo für den Kopf, die enge Hose. Die Straßen sind asphaltiert und beleuchtet. Es gibt fließendes Wasser, Kanalisation, Kinos und Bars. Wie überall in der Welt hat das Fernsehen kräftig zum Identitätsverlust seiner Zuschauer beigetragen. Es gibt Autos, Motorräder, Kühlschränke, ein ausgeklügeltes System materiellen Glücks, im Gleichgewicht gehalten durch unsere Gesellschaft, in der wissenschaftlicher und technischer Fortschritt die Moral und das Denken des Menschen in weite Fernen verbannt haben. Die Entropie, das Chaos, hat die täglich beängstigender werdende Form der Bevölkerungsexplosion angenommen. Ich habe das Glück gehabt, meine Kindheit im Mittelalter zu verbringen, in einer „leidvollen und köstlichen“ Zeit, wie Joris-Karl Huysmans schreibt. Leidvoll in der materiellen Existenz, köstlich in der geistigen. Das genaue Gegenteil zu heute.

 

©Alexander Verlag©

Literaturangaben:
BUÑUEL, LUIS / CARRIÈRE, JEAN-CLAUDE: Mein letzter Seufzer. Erinnerungen. Aus dem Spanischen von Frieda Grafe und Enno Patalas. Alexander Verlag, Berlin 2004. 416 S., mit zahlreichen schwarz-weiß-Abbildungen, 19,50 €.

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