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Eine Kulturgeschichte der Nacht

Elisabeth Bronfens Buch „Tiefer als der Tag gedacht“

© Die Berliner Literaturkritik, 25.02.08

 

MÜNCHEN (BLK) – Elisabeth Bronfens Buch „Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht“ ist im Carl Hanser Verlag erschienen.

Klappentext: In der Nacht erwacht eine eigene Welt. Es schlägt die Stunde der Erscheinungen, der Verwandlungen, der Übertretungen. Von solchen Szenen handelt Elisabeth Bronfens neues Buch. Weil sich die Szenen der Nacht der Logik des Tages entziehen, sind sie nicht mit einem Begriff zu fassen, sondern werden auf der Bühne, in Romanen oder im Kino erzählt. Das beginnt mit den Schöpfungsmythen der frühen Griechen, führt über Shakespeare und Milton zur Romantik. Die Psychoanalyse ist die erste Wissenschaft, die von der nächtlichen Logik systematisch Gebrauch macht, im Film noir verschmilzt die Dunkelheit des Kinosaals mit der Handlung auf der Leinwand. Und wenn die Kamera in die Dämmerung hineinfährt, werden die Zuschauer von jenem Zauber der Nacht umfangen, den dieses Buch in einer großen Geschichte beschwört. (tan/wip)

 

Leseprobe:

© Carl Hanser Verlag ©

Mrs. Dalloway verlässt zu früher morgendlicher Stunde das Haus, um Blumen einzukaufen. Sie sind für die Party bestimmt, die sie in der kommenden Nacht veranstalten wird. Sie durchquert den Hyde Park und stellt fest: „Sie fühlte sich sehr jung; gleichzeitig unaussprechlich betagt. Sie schnitt wie ein Messer durch alles; war gleichzeitig außerhalb und sah zu. Sie hatte eine nicht endende Empfindung, während sie die Droschken beobachtete, draußen zu sein, draußen, weit draußen auf See, und allein; sie hatte immer das Gefühl, es sei sehr, sehr gefährlich, auch nur einen Tag zu leben“ (15). Sie hofft, dass das Fest ihren Gästen ein fröhliches Beisammensein bereiten wird.

Dennoch lösen die Vorbereitungen wiederholt Gedanken aus, die unter der Oberfläche ihrer erwartungsvollen Betriebsamkeit eine bedrohliche Leere erkennen lassen. In ihrem Tagebuch umschreibt Virginia Woolf die von ihrer Heldin Clarissa angesprochenen Gefahren eines einzigen Tages mit dem Bild einer Gratwanderung über einem Nichts. „Warum ist das Leben so tragisch; wie ein schmales Stückchen Trottoir über einem Abgrund“, fragt sie im Eintrag vom 25. Oktober 1921. Sie stellt fest, dass Worte diese Angst zu beruhigen vermögen: „Ich schaue hinunter; mich schwindelt; mich schwindelt; ich frage mich, wie ich je auf die andere Seite gelangen soll. Aber warum habe ich dieses Gefühl? Jetzt, wo ich es sage, ist es weg“ (115). Die Arbeit an ihren Romanen erlaubt ihr, das Unglück, das sie überall zu entdecken meint, in Schach zu halten. Dennoch bleibt eine Spur des Unbehagens: „Wie glücklich bin ich trotz alledem; wenn da nur nicht das Gefühl von dem schmalen Stück Trottoir über dem Abgrund wäre“ (116).

Das Nichts droht sie in seinen tödlichen Abgrund zu ziehen. Nur die Hinwendung zum Schreiben vermag es abzuschirmen, wenn auch nicht gänzlich zu verhüllen. Doch in ihren Tagebucheinträgen gesteht sie, dass die dunkle Unterwelt, in die ihre psychische Erkrankung sie periodisch fallen lässt, sie auch fasziniert. Ihre düstre Schwermut begreift sie auch als „Ansturm der Wahrheit“ (28. September 1926, S. 174). Sie notiert nicht nur die Wahnsinnschübe, die sie wie Wellen mit Todessehnsucht überfluten. Diese Anfälle tiefer Depression schlagen immer wieder in eine entschlossene Annahme des Lebens zurück. „Ich wollte eigentlich über den Tod schreiben, nur ist das Leben wie immer dazwischengekommen „, stellt sie am 17. Februar 1922 fest. „Angenommen, sagte ich mir neulich, dieser Schmerz in der Herzgegend würde mich plötzlich ausringen wie einen Spüllappen & ich wäre tot? – Ich fühlte mich schläfrig, indifferent & ruhig; & dachte also, es wäre ziemlich egal. Dann löste ein Vogel, oder ein Lichtstrahl vielleicht, den Wunsch in mir aus, allein zu leben – den Wunsch vor allem, am Fluss entlang zu gehen & die Dinge zu betrachten“ (149). Die Dialektik zwischen Leben und Tod, Glück und Angst, die Woolf als wellenhafte Abfolge von Tagen und Nächten in ihren Romanen verhandelt, produziert psychische Umnachtung nicht, um unter der Ägide einer aufklärenden Vernunft einen Triumph gegen diese vorzuführen. Vielmehr behauptet Woolf von sich, „ich schwebe auf eine ungewohnte Weise zwischen Leben & Tod“ (18. Feb. 1922, S. 252).

Immer setzt sich eine geistige Nacht durch, die vom gewöhnlichen Alltag eingeholt wird. Dabei geht es ihr um jene Vorstellung des Subjekts als nächtliches, die Hegel in seinen Ausführungen zur Nacht der Welt postuliert. An dieser Denkfigur macht Hegel eine Behauptung fest, die durchaus auch für Woolfs Figuren zutrifft: Der Mensch ist als Abgrenzung und Grenze zum reinen Nichts einer ursprünglichen Nacht zu begreifen. Von dieser Leere, die ihn anzieht und auszulöschen droht, setzt er sich lediglich zeit seines Lebens ab, indem er sich im Wissen um dieses Nichts stets neu definiert.

In seinen Vorlesungen zu Hegel hält Alexander Kojève fest, die letzte Grundlage des menschlichen Daseins, die Quelle und der Ursprung der menschlichen Wirklichkeit sei „das Nichts oder die Macht der Negativität, die sich nur durch Verwandlung der gegebenen Identität des Seins in den schöpferischen Widerspruch des ‚dialektischen’ oder geschichtlichen Werdens verwirklicht und manifestiert – jenes Werdens, in dem es Dasein nur in der und durch die Tat gibt“. Das Wesen des Menschen besteht darin, dass das Nichts, aus dem er entstanden ist, zu etwas diesem negativ Entgegengesetztem wird, weil er ein Handelnder ist. Vom Menschen zu behaupten, er sei ein nächtliches Wesen, bedeutet nicht, ihn nur mit jenem reinen Nichts gleichzusetzen, sondern seine Existenz gerade als schöpferische Abgrenzung zu diesem zu behaupten, wiewohl er dieses Nichts in der Form der Aufhebung auch in sich trägt. Aufgrund seines steten Werdens nichtet das Selbst, „indem es ‚aufhebt’ was ist, und erschafft, was nicht ist“.

Die Nähe zu Woolfs Romanfiguren ergibt sich daraus, dass Hegel das reine, noch nicht unterschiedene Selbst mit einer reinen Nacht vergleicht, die „alles in ihrer Einfachheit enthält, ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt oder die nicht als gegenwärtige sind“. Das Selbst zu setzen besteht hingegen darin, von jener schöpferischen Macht Gebrauch zu machen, die es dem Einzelnen erlaubt, diese Vielzahl von Bildern aus dem Fundus seiner Nacht hervorzuziehen oder hinunterfallen zu lassen. Durchaus analog nutzt Woolf ihre Wortmacht. Schreibenderweise rückt sie anhand von Bildern und Vorstellungen fiktionale Welten ins Licht, die im Dunkel ihrer noch unentfalteten Imagination (aber auch im Speicher eines kulturellen Gedächtnisses, das sie mit ihren Romanen wiederbelebt) abgelagert sind. Der Akt des Nichtens erlaubt dem Mensch, sein Selbst mit und gegen ein ursprünglich reines Nichts zu setzen. Er entpuppt sich als Akt eines freien Erschaffens, der Woolfs eigenem ästhetischen Arbeiten entspricht. Manifestiert sich laut Kojève diese dialektische Bewegung, „die das Nichts, das der Mensch ist, im Sein erhält“, als negierendes und zugleich schöpferisches Tun, stellt diese negative und schöpferische Macht des Menschen auch eines der Grundthemen der Romane Woolfs dar. Wiederholt zeichnen ihre Geschichten nach, wie dank des Schreibaktes aus einer chaotischen Mannigfaltigkeit noch nicht unterschiedener Dinge Gestalten ins Licht gerückt werden.

Zugleich begreift Woolf ihr Schreiben als ein Tun, das die natürliche Welt und ihre Verhaftung in dieser negiert, um gegen sie und aus ihr heraus Welt als Text zu erschaffen. Apodiktisch formuliert: Woolfs Schreiben richtet sich gegen das Nichts, das sie alltäglich als bedrohlichen und zugleich faszinierenden Abgrund begreift, über den das Leben nur einen schmalen Pfad schlägt. Es stellt damit eine apotropäische Geste dar. Im Benennen verliert die Angst ihre affektive Kraft. Zugleich aber macht die Benennung diese Angst auch bewusst; hält sie regelrecht in der Schrift fest. So ist ein grundsätzlicher Widerspruch in Woolfs Romanen inhärent: Sie behaupten, der Mensch sei außerhalb seines im steten Werden und Erschaffen eingebundenen Existierens nur reines Nichts. Doch ist gerade von diesem Nichts seine Existenz für die begrenzte Zeit, die das Leben des Einzelnen ausmacht, zu unterscheiden. Woolf geht es aber auch um die Analogie zwischen einem schöpfenden Nichten des Selbst und dessen Spiegelung im ästhetischen Text. Wie das Selbst sich durch ein Nichten setzt, unternimmt auch die Künstlerin durch ihre Aufhebung von der materiellen Welt in Zeichen eine Setzung, mit der sie jene Voraussetzung schafft, die es ihr erlaubt, Leben und Kunst gleichzusetzen: sei es, weil Clarissa oder Mrs. Ramsay im Zusammenfügen von Menschen eine Absetzung vom Nichts tätigen, sei es, weil Lily eine Verstorbene im Bild gegenwärtig macht oder Orlando sich selbst zur verkörperten Literatur transformiert, die das Genichtete weiter in sich trägt. Die Angst, die Clarissa darüber reflektieren lässt, wie gefährlich es sei, einen Tag zu durchleben, verbindet Woolfs Vorstellung von Schreiben mit jener Zauberkraft, die laut Hegel das Nichts, das sich dem Menschen gegenüber und durch ihn als Tod manifestiert, in eine schaffende Kraft verwandelt. Ruft bei den verschiedenen Figuren, die in Die Wellen (The Waves, 1931) zu einem Gesamtbewusstsein zusammenfließen, das Wissen um die Vergänglichkeit jene das Selbst bestimmende Negativität hervor, die Todesangst erfahren und diese in Schöpfung transformieren lässt, könnte man für alle Romane von Virginia Woolf von einem Verweilen bei der Nacht sprechen.

Auf der Ebene ihrer Geschichten lösen sich Werden und Vergehen ständig ab, werden einzelne Figuren als distinkte Stimmen und Gestalten herausgehoben, um im Gesamtgewebe des Textes wieder aufzugehen. Der Zustand des Nichtunterschiedenen wird dabei von Woolf als zweifache Nacht konzipiert: als alltägliche Nacht, aus der der Tag sich herausschält und in die er zurückkehrt, aber auch als jenes Nichts, das unendlich viele Vorstellungen und Bilder enthält, aus dem mal nachts mal tagsüber – jedoch stets für den Tag – Werke erschaffen werden. Woolfs ästhetisches Selbstverständnis verweilt bei dieser doppelten Nacht, indem sie durch Sprache eine Horizontlinie zieht, Innerlichkeit veräußert, dabei aber jene Angst manifest macht, gegen die sowohl ihre eigene poetische Sprache, wie auch ihre Künstlerfiguren schöpferische Taten (als Nichten der reinen Nacht) richten. Geschichtenerzählen wird so zum Versuch, die Nacht zurückzuweisen, um Form aus jenem Chaos entstehen zu lassen, das diese Bilder (wie die alltägliche Nacht den Tag) in sich aufnimmt. Man könnte von einer Nacht der Schrift sprechen, denn Woolf nimmt im doppelten Sinn die Nacht zurück. Sie nichtet mit ihrem Schreiben den bedrohlichen Abgrund, der sie zu vernichten droht, und zeichnet zugleich das immanente Nachwirken dieser reinen Nacht nach. Indem sie das Entstehen und Verflüchtigen von einzelnen Lebensgeschichten vorführen, präsentieren ihre Romane Schreiben zwar als einen Akt des Scheidens. Schreibend holt sie sich aus der Nacht eines leeren Nichts Bilder heraus, die sich wieder verflüchtigen. Als Autorin hingegen verlässt Woolf die Haltung des Scheidens nie. Selbst in den nächtlichsten Augenblicken ihrer Romane ist nie nur Nichts.

© Carl Hanser Verlag ©

Literaturangaben:
BRONFEN, ELISABETH: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. Carl Hanser Verlag, München 2008. 632 S., 29,90 €.

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