BERLIN (BLK) – Im Aufbau Verlag ist im Januar 2011 der preisgekrönte Roman „Rimbaud und die Dinge des Herzens“ von Samuel Benchetrit erschienen. Er wurde von Olaf Matthias Roth ins Deutsche übersetzt.
Klappentext: Der „kleine Prinz“ der Pariser Vorstadt „Weißt du, Charly, im Leben muss man lieben, und zwar sehr. Man darf niemals Angst haben, zu sehr zu lieben. Diejenigen, die den Schmerz fürchten, glauben nicht an das Leben ... Verstehst du, Charly: Was auch geschieht, sieh zu, dass dein Herz immer voll ist“. Ein kleiner Junge sucht in der feindlichen Umgebung der Pariser Banlieue einen Tag lang nach seiner Mutter – und nimmt uns dabei mit auf eine Reise in eine überraschende Welt voller Hoffnung und Poesie. Eine moderne Fabel, die glücklich macht. Der zehnjährige Charly ist gewohnt, dass die Polizei seine Mutter aus ihrer Wohnung in dem heruntergekommenen Hochhaus holt – immer geht es um seinen Bruder Henry und dessen Drogenprobleme. Doch heute hat sie ihn zum ersten Mal in seinem Leben nicht angelächelt: Was ist passiert? Er muss sie finden, auch wenn er dafür die Schule schwänzt. Mit klopfendem Herzen läuft er durch das Viertel, erzählt von seinen Sorgen und von den zwei Frauen, die er liebt – seine Mutter und seinen heimlichen Schwarm Melanie. Und wenn er gar keine Antworten mehr findet, sucht er Zuflucht bei den Versen seines Lieblingsdichters Rimbaud. Jeder Leser wird den lebensmutigen, weisen Charly ins Herz schließen und nicht mehr daraus entlassen.
Samuel Benchetrit wurde 1973 in Champigny-sur-Marne geboren. Er arbeitet erfolgreich als Schriftsteller, Regisseur, Schauspieler und Drehbuchautor. Für „Rimbaud und die Dinge des Herzens“ erhielt er 2009 den Prix Populiste. Die französische Presse jubelte: „Humorvoll und ernsthaft zugleich – irgendwo zwischen „Der Fänger im Roggen“ von Salinger und bester Dickens-Tradition.“
Leseprobe:
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Anfangs dachte ich, Rimbaud wäre ein Wohnturm. Weil man Rimbaud-Turm sagt. Dann aber erklärte mir mein Kumpel Yéyé, dass Rimbaud ein Dichter gewesen ist. Warum man meinem Wohnturm den Namen eines Dichters gegeben hat, ist mir schleierhaft. Yéyé meinte, weil der Mann bekannt war und vor langer Zeit gestorben ist. Ich habe natürlich gleich gefragt, ob er gestorben ist, nachdem er unseren Wohnturm gesehen hat. Yéyé meinte, nein, der wäre schon viel früher gestorben. Umso besser für ihn, habe ich erwidert, weil der Turm grottenhässlich ist und Rimbaud bestimmt genervt wäre, wenn er wüsste, dass sein Name für so was genommen wird. Yéyé wandte ein, er fände es gut, wenn man seinen Namen für überhaupt irgendetwas verwenden würde. Ich fände es total daneben, in einem Yéyé-Turm zu wohnen, habe ich gesagt. Ich soll mich verpissen, war Yéyés Antwort, und mein Name wäre ja wohl auch nicht besser. Ich heiße Charly.
„Charly-Turm, das klingt noch bescheuerter als Yéyé-Turm.“
Da musste ich ihm insgeheim recht geben, trotzdem habe ich gesagt, er soll sich selbst verpissen. Wir haben noch eine Weile so weitergeredet, denn es gibt einen Haufen Dichter, nach denen sie in unserem Viertel irgendwelche Sachen benannt haben. Verlaine-Turm. Cité Hugo. Centre Guillaume Apollinaire. Und von all diesen Dingern ist eines hässlicher als das andere. Aber die Dichter sind ja gestorben, bevor sie davon erfahren haben, also was soll’s.
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Als wir die Cité Berlioz hinter uns ließen, hatte sich das Wetter geändert. Auf einmal schien die Sonne hinter den Wolken. Ich finde es immer seltsam, wenn ich nicht mitbekomme, wie das Wetter wechselt. Das ist ein Gefühl, als würde ich gar nicht existieren. Auch wenn ich weiß, dass sich das Wetter an vielen Orten ändert und dass ich nicht auf der Welt bin, um das mitzubekommen. Ich habe ja ein Stückchen Himmel, um das ich mich kümmern muss. Mein Stückchen Himmel. Das über meinem Viertel. Wenn ich nichts zu tun habe und der Wind weht, sehe ich gerne zu, wie die Wolken dahinziehen. Von meinem Zimmerfenster aus kann man sie gut beobachten. Ich habe einen freien Blick – das Gebäude gegenüber ist viel niedriger. Ich suche mir eine Wolke aus und verfolge sie. Wenn es viele sind, ist das gar nicht so einfach, denn sie ähneln sich sehr. Man darf sie nicht aus den Augen verlieren, die Wolken ändern ihre Form und werden kleiner. Wenn ich einer Wolke folge, frage ich mich, ob ich der Einzige bin, der sie betrachtet. Solche Gedanken machen mich verrückt. Ich frage mich nämlich weiter, ob ich wohl der Einzige bin, der sich sagt, dass er vermutlich der Einzige ist, der diese Wolke betrachtet. Mit mir ist echt etwas nicht in Ordnung. Wenn die Wolke sehr weit weg ist und ich sie schon beinahe aus den Augen verloren habe, überfällt mich ein Gefühl der Leere. Ich würde mir dann am liebsten mein Fahrrad schnappen und meiner Wolke hinterherfahren. Aber das mache ich dann doch nie. Meine Wolke setzt ihre Reise ohne mich fort, und vielleicht betrachtet ein anderer Junge sie unter seinem Vorstadthimmel.
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Literaturangabe:
BENCHETRIT, SAMUEL: Rimbaud und die Dinge des Herzens. Aus dem Französischen von Olaf Matthias Roth. Aufbau Verlag, Berlin 2011. 258 S., 16,95 €.
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