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Eine Naturgeschichte der menschlichen Sprache

Ruth Bergers „Warum der Mensch spricht“

© Die Berliner Literaturkritik, 16.04.08

 

FRANKFURT AM MAIN (BLK) – Ruth Bergers „Warum der Mensch spricht. Eine Naturgeschichte der Sprache“ ist im Eichborn Verlag erschienen.

Klappentext: Der Mensch wird erst durch Sprache zum Menschen. Aber wann war das? Und vor allem: wie und warum passierte das? War es eine Zufallsmutation, wie viele Forscher glauben, die erst vor wenigen Jahrzehntausenden beim modernen Menschen geschah? Oder fanden die Anfänge der Sprachentwicklung nicht schon viel früher statt, nämlich bereits vor rund 2 Millionen Jahren, als aus aufrecht gehenden Menschenaffen die allerersten frühen Urmenschen entstanden? Deren Babys konnten sich wegen der zurückgehenden Körperbehaarung nicht mehr an den Müttern festhalten. Fingen die Mütter damals an, mit ihren Babys über Laute zu kommunizieren, wenn sie sie aus dem Arm legen mussten?

Zum ersten Mal hat die Sprachwissenschaftlerin Ruth Berger populärwissenschaftlich die neuesten Erkenntnisse der Sprachwissenschaft, Paläoanthropologie, Biologie, Archäologie und Neurologie vereint, um die Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache beantworten zu können. Sie erklärt, warum Menschenaffen nie sprechen lernen, was Knochenfunde über die Sprachfähigkeit der Neandertaler verraten und warum es keine angeborenen Sprachregeln gibt. Und sie beweist: Sprache steht nicht am Ende der menschlichen Evolution, sondern hat die Entwicklung des menschlichen Gehirns und Verhaltens entscheidend geprägt. (tan/wip)

 

Leseprobe:

© Eichborn Verlag ©

DIE GRUNDFRAGE: NATUR ODER KULTUR?

Besitzt der Mensch einen angeborenen, natürlichen „Sprachinstinkt“, wie es schon Herder behauptete?

Oder ist Sprache eine kulturelle Erfindung – so wie die Landwirtschaft oder die Dampfmaschine? Das war die Ansicht von Kant.

Mitte des 20. Jahrhunderts war die zweite Hypothese viel beliebter als die erste. Aus guten Gründen: Es schien kein Problem, neue Kunstsprachen wie Esperanto oder Volapük zu erfinden. Auch die Gebärdensprachen der Gehörlosen wurden von den Menschen neu „konstruiert“. Warum also sollte nicht auch Sprache insgesamt eine Erfindung sein?

Man konnte sich das zum Beispiel so vorstellen: Eines Tages hatte sich eine pfiffige Person überlegt, wie man mit einer Art lautlichem Code die Kommunikation zwischen den Menschen verbessern könnte. Irgendeine Lautfolge würde für „Wasser“ stehen, eine andere für „Mammut“. Wenn das erst alle in der Gruppe wüssten, würde künftig bei der Rückkehr ins Lager jemand „Wasser Mammut“ sagen und alle verstünden, dass es am Fluss eine zur Jagd einladende Mammutherde gab. Eine solche Erfindung hätte sich wegen ihrer vielen Vorzüge schnell durchgesetzt und nach einer Reihe von Verfeinerungen wären unsere heutigen Sprachen dabei herausgekommen.

Als biologische Voraussetzung würde demnach unsere allgemeine Intelligenz genügen, die uns befähigt, ein Codesystem zu entwickeln. Einen speziellen „Sprachinstinkt“ gäbe es nicht.

Auf den ersten Blick spricht vieles dafür. Sprache ist ja ein frei variierender Code. Während die meisten Singvogelarten nur ein Lied singen können, gibt es unzählige unterschiedliche menschliche Sprachen. Jede davon stellt einen eigenen Code dar, und die Codes nicht verwandter Sprachen haben wenig Ähnlichkeit. Was bei Deutschen „Wasser“ heißt, heißt für Türken su und für Israelis mayim. Die Laute sind offenbar ganz willkürlich dem von ihnen bezeichneten Gegenstand zugeteilt. Es handelt sich also um Konventionen, die in einer bestimmten Sprachgemeinschaft üblich sind und in anderen nicht. Solche regelhaften Gewohnheiten kann man als Außenstehender, zum Beispiel als Fremdsprachenschüler, lernen. Sie können sich mit der Zeit ändern, und das manchmal sehr schnell: In den Siebzigerjahren brauchten Politiker Leibwächter. Heute heißen die gleichen Personen fast immer Bodyguards – das englische Fremdwort ist auf dem besten Wege, den deutschen Begriff zu ersetzen.

Mit den Wörtern einer Sprache verhält es sich dabei auffällig anders als mit anderen Formen der menschlichen Kommunikation. Bitte ich in China um „Wasser“, bekomme ich wahrscheinlich keins, weil man mich nicht versteht. Ein plärrendes deutsches Baby aber signalisiert auch Chinesen erfolgreich sein starkes Missbehagen, ohne je eine Fremdsprache gelernt zu haben. Der Verhaltensforscher Eibl-Eibesfeldt hat die Verständlichkeit von Gesichtsausdrücken bei den entlegensten Völkern getestet. Es fanden sich nirgendwo Menschen, die eigene Gesichtsausdrücke für Grundemotionen wie Furcht, Freude, Überraschung oder Ekel benutzten. Ein fröhliches Gesicht wird überall auf der Welt als fröhlich erkannt. Sogar von Geburt an Blinde zeigen die entsprechende Mimik, ohne sie jemals bei anderen Menschen gesehen zu haben.

Bei Säuglingsschreien und Gesichtsausdrücken handelt es sich nicht um willkürliche, konventionelle Festlegungen, sondern um angeborene und unwillkürliche Verbindungen zwischen dem Signal und seiner Bedeutung. Die Muttersprache ist dagegen niemandem angeboren. Nehmen wir an, ein Kind, dessen Eltern Chinesisch sprechende Chinesen sind, wird ab dem Säuglingsalter von deutschen Adoptiveltern aufgezogen. Weltweit gibt es Tausende von Auslandsadoptionen im Jahr; die Kinder lernen genauso perfekt Deutsch wie leibliche Kinder deutscher Eltern. Die Sprache ihres Ursprungslandes wird für sie zur Fremdsprache wie für jeden Deutschen. Die Muttersprache ist also immer die Sprache, mit der man als Kind aufwächst. Welche das ist, wird nur durch die Umgebung festgelegt und nicht durch die Gene.

Ein weiteres starkes Indiz für diese These sind die grausamen Schicksale, die manche Kinder auch heute noch erleiden müssen. Der historische Fall des Kaspar Hauser ist ein wenig zweifelhaft, doch zwei andere Fälle gelten als authentisch. Einer handelt von einem kalifornischen Mädchen, das bis zum Alter von über 13 Jahren von seinem Vater festgebunden in völliger Isolation von Sprache gehalten wurde.

Als die Behörden das Mädchen 1970 befreiten, wurde es zum Forschungsobjekt von Sprachwissenschaftlern und Psychologen, die sich ihrerseits, das soll nicht unerwähnt bleiben, nicht immer menschlich korrekt verhielten. Sie gaben dem Mädchen den Namen Genie (sprich: Dschieni) und überschütteten es zunächst mit Zuwendung. Es blühte auf und begann mit großer Neugier, die Menschen und die ihm zuvor völlig unbekannte Welt außerhalb seines Gefängnisses zu erkunden. Ein Forscherehepaar nahm Genie als Pflegekind auf. Dort machte sie große Fortschritte. Doch als einige Jahre später die Forschungsgelder ausliefen und Genie sozusagen wissenschaftlich ausgelutscht war, ließen ihre neuen Bezugspersonen sie fallen. Sie kam in wechselnde, teils sehr schlechte Pflegefamilien; Rückschritte waren die Folge.

Ein für die Sprachwissenschaft wichtiges Ergebnis der traurigen Geschichte: Genie hatte, als sie mit 13 gefunden wurde, keine Sprache besessen. Ähnlich soll es sich mit dem zweiten anerkannten Fall eines isolierten Menschen verhalten haben. Der „Wolfsjunge“ Victor war im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts als Kind ausgesetzt worden und hatte offenbar im Wald bei einem Wolfsrudel gelebt. Auch er konnte zunächst nicht sprechen. Wer ohne eine Sprache aufwächst, der lernt auch keine.

Dies scheint die Auffassung zu bestätigen, Sprache sei dem Menschen nicht angeboren, sondern von klugen Geistern erfunden worden, ein rein kulturelles und kein biologisch vorgeprägtes Phänomen. Zumindest auf den ersten Blick. Doch genau hier, bei Genie und Victor, gibt es einen Punkt, der Zweifel aufkommen lässt.

© Eichborn Verlag ©

Literaturangaben:
BERGER, RUTH: Warum der Mensch spricht. Eine Naturgeschichte der Sprache. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 304 S., 19,95 €.

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