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Eine Reise nach Spitzbergen

„Ultima Thule“ von Simone Sassen, mit einem Essay Cees Nootebooms

© Die Berliner Literaturkritik, 06.01.09

 

Der Archipel wurde 1596 von den holländischen Seefahrern Willem Barents und Jan Cornelisz Rijp entdeckt; sie nannten die Insel, an der sie an Land gingen „Spitzbergen“, weil ihre Berge ganz spitz aus dem kalten Nebel ragten. „Ultima Thule“ – so nennen Simone Sassen und Cees Nooteboom ihr Buch über diese Gegend nur ein paar Breitengrade vom Nordpol. Auf Spitzbergen wohnen nur 1.400 Menschen, die die vier Monate vollständigen Dunkels, mit Temperaturen von bis zu 40 Grad unter Null aushalten: in den wenigen Kneipen, mit Büchern und CD’s und im Bett. Wenn es wieder hell würde, so hat es einer der Einheimischen – meist Samen – dem Schriftsteller verschmitzt gesagt, wechsle man den Partner. Das erfahren wir von ihm, der mit einigen anderen Reiseschriftstellern und der Photographin Simone Sassen , eingeladen von der norwegischen Regierung, die Inseln der Gruppe im September 2007 besuchte: man erhoffte sich offenbar eine publizistische Unterstützung der staatlichen Besitztitel jener Eilande, die von Oslo weiter entfernt sind als Rom. Denn Russland hatte symbolträchtig dort, wo das Eis des Nordpols aufhört, ein weiss-blau-rotes Fähnchen auf dem Meeresgrund verankert und es besitzt auf Spitzbergen seit 1920 Schürfrechte, hat sie bis 1998 mit fast anderthalbtausend Leuten auch genutzt. Dann sind diese russischen Arbeiter mit dem ganzen Tross fast von einem Tag auf den anderen verschwunden und haben eine Geisterstadt zurückgelassen: „ein russisches Pompeji ohne Leichen“. Hier ist sozusagen ein Stück sowjetischen Alltags eingefroren und die Reisegruppe hatte zehn Stunden Zeit, sich die erstaunlich guten Backsteinhäuser, den Kulturpalast, das Schwimmbecken (!), die inzwischen verrosteten Kräne, den ebenso verwitterten Landungssteg, die übrig gebliebenen Wohnungen (mit Nachtkästchen und ausgeweidetem Klavier), den „Platz“ mit der obligaten Lenin-Büste und die zurückgelassenen, an eine grüne Hauswand gelehnten Marx- und Lenin-Porträts unter Glas anzusehen. Das alles hat den Schriftsteller ein wenig an Ambiente in der ehemaligen DDR erinnert, als diese noch nicht ehemalig war.

Simone Sassen hat Spitzbergen und die russische Siedlung „Pyramiden“, so genannt, weil der Berg hinter ihr einer Pyramide gleicht, photographiert, ganz chronologisch: zuerst die aus den Wolkenflächen ragenden weiß bemützten Umrisse der Insel in der Eiswüste, die wie weiße, schrumplige, uralte Haut aussehenden Hänge, so wie sie aus den Fenstern des Flugzeugs sichtbar wurden, mit dem sie auf Spitzbergen zuflogen, dann die kahlen, grauen Gebirgszüge, die man vom Wasser aus sieht (man war zu Schiff nach „Pyramiden“ gefahren), die wuchtigen, von den Naturgewalten in Jahrtausenden schrundig gemachten Bergmassive, die sich unmittelbar aus dem von Eisstücken gesprenkelten Wasser aufstemmen, manchmal sind sie leicht grünlich oder rötlich; das kommt von Moosen, die der Kälte und dem harten Stein trotzen.

Sassen nähert sich der Landungsstelle langsam: erst kommt eine schmale, spitze Landzunge, dann werden die Berge höher, führen auf einen Berg zu, der eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Fujijama hat: Eis und Stein. Viele dieser Photos haben die Eigenschaften von Grafiken, wie sie in den sechziger Jahren von einigen abstrakten Künstlern gemacht wurden: Sonderburg und Schoofs etwa. Aus diesen Bildern dunstet eine kalte, selbstgenügsame Einsamkeit, die apodiktisch sagt: Hier habt ihr Menschen nichts verloren. Sie sind gleichwohl schön in ihrer spröden Kargheit. Die Photos aus „Pyramiden“, die dieser Introduktion folgen, sagen nur einmal das genaue Gegenteil von leer: wenn Sassen nämlich dreimal die Reisegruppe in den Blick nimmt, danach dominiert wieder Einsamkeit, nun als totale Verlassenheit dekliniert: die eisernen und hölzernen Überbleibsel des Industriezeitalters, der kahle Steg, einige farbige Holzhütten, ein übrig gebliebener Tisch, die Elektromasten, zwischen denen noch Drähte hängen, eine Wüste, von Menschen gemacht. An einem der Backsteinhäuser hängen noch zwei Schilder: „Museum“ und „Bar“, merkwürdigerweise nicht in kyrillischen Buchstaben geschrieben wie die Parolen auf einem großen Schild, das einen Eisbären über einer Weltkugel und den Breitengrad „79“ anzeigt. Von einer Hauswand hängen drei fünfeckige Schilder auf jeweils anderen Stottbannern herunter: es mag sich da um Orden handeln, die der Anlage verliehen wurden. Die Verlassenheit wird im Kopf des Betrachters zur schieren Trostlosigkeit: wie mag es denen ergangen sein, die dort lebten und arbeiteten, weil die Sowjetunion auch die Kohle aus Spitzbergen zu brauchen meinte? Es spricht übrigens nichts dafür, dass es sich dabei um Zwangsarbeiter gehandelt haben könnte.

Sassen hat die völlig verlassene Siedlung, die diese ungerührt objektiven Photos zeigen, wohl nicht ungern verlassen. Archäologie des jüngst Aufgegebenen hat immer etwas mit dem Sortieren von Müll zu tun. Umso eindrucksvoller die geradezu märchenhaft komponierten Bilder von den Bergformationen, die auf der Rückfahrt in der Spätsonne gelegen haben müssen. Sie hat es dabei belassen: es gibt keine Bilder von Longyearbyen, dem Hauptort von Spitzbergen, auch die Schlittenhunde nicht, von denen Nooteboom in seinem Essay erzählt, oder von der samischen Hochzeit: das wäre ja Gegenwarts-Folklore. In diesem Buch aber regiert in graugrundigen Farben die Abweisung. Und in Nootebooms Text werden am Ende die bürokratischen Anweisungen aufgezählt, an die sich jeder dort halten muss: wo Menschen sind, gibt es Verbote.

Literaturangaben:
NOOTEBOOM, CEES/SASSEN, SIMONE: Ultima Thule: Eine Reise nach Spitzbergen, Verlag Schirmer/Mosel, München 2008. 128 S., 29,80 €.

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