„Die Madonna im Pelzmantel“ von Sabahattin Ali ist eine Geschichte über die existentielle Kraft der Liebe – vielmehr jedoch über ihr Scheitern am Leben, welches in der Handschrift Alis Züge eines undurchdringlichen Schicksals annimmt. Der Autor, 1932 wegen eines Atatürk-kritischen ein Jahr inhaftiert und Herausgeber einer Satirezeitschrift, schlägt in der „Madonna“ leise und gänzlich unironische Töne an.
Die Handlung des Romans ist auf zwei Ebenen angesiedelt: Die äußere Handlung, geschildert aus einer namenlosen Ich-Perspektive, angesiedelt Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre beginnt mit einem Rückblick des Erzählers auf seine Bekanntschaft mit dem eigentlichen Protagonisten des Romans, Raif Efendi. Dessen schriftlich niedergelegte Erinnerungen an seine große Liebe im Berlin der 20er Jahre bilden die wichtigere Ebene des Romans.
Der Ich-Erzähler, der sich in einer schwierigen beruflichen Situation befindet, streift auf der Suche nach Arbeit mehr oder minder ziellos umher, bis er einem früheren Bekannten begegnet, der ihm eine Anstellung in seinem Büro verschafft. Schon hier wird die Grundstimmung des ganzen Buches überdeutlich. Dieser Grundbass, der durch den gesamten Roman schwingt, wurde von Orhan Pamuk in einem Essay beschrieben, den er unter dem Titel „Hüzün – Das Istanbul-Gefühl“ in der „SZ“ am 12. Oktober 2006 veröffentlichte. Pamuk beschreibt Hüzün als depressiven Schuldkomplex: Das Gefühl des Verlustes, Preis einer jeden Leidenschaft, exerziert die Schuld des Einzelnen, seine Schuld zu Wollen.
Der Ich-Erzähler trifft in seiner neuen Tätigkeit im Büro auf besagten Raif Efendi. Jener gibt nun auf das Ergebenste das Bild eines Opferlamms ab. Er verharrt gegenüber seiner Umwelt in völliger Passivität, dergestalt, dass er für völlig antriebslos und geistig minderbemittelt gehalten wird. Allerdings fällt dem Erzähler, nach einer Szene heftiger Demütigung Efendis durch den gemeinsamen Chef, eine Karikatur dessen in die Hände, in der Efendi die Charakteristik des Vorgesetzten brillant offenlegt.
Allmählich wird der Erzähler mit der familiären Situation Efendis vertraut und gewahrt auch in dessen Rolle als Familien-„Oberhaupt“ seine demütige Ergebenheit in die Ignoranz und Ausbeutung durch seine Kinder, sowie seine zurückhaltende Gleichgültigkeit gegenüber seiner Frau. Über die Hintergründe dieses Verhaltens jedoch kann er recht wenig in Erfahrung bringen, bis Raif Efendi, was häufig passiert, schwer erkrankt. Am Krankenlager, von dem es vermeintlich kein gesundes Erstehen geben wird, bittet Raif den Erzähler, er möge ihm sein Notizbuch aus dem Büro bringen. Dies stellt sich als ein Erinnerungsbuch Raifs, nicht nur an die Zeit in Berlin, heraus. Der Sterbende gewährt seinem einzigen Freund die Lektüre einer Nacht.
In seinen Erinnerungen präsentiert sich Raif Efendi schon in Jugendjahren als verträumter Melancholicus, der sich, äußerlich antriebslos und einzig dem Willen seines distanzierten Vaters willfahrend, innerlich abenteuerliche Geschichten erträumt, und so seinen sozialen Hemmungen eine ideale Welt entgegensetzt. Als junger Mann scheitert sein Versuch, sich auf dem Feld Ruhm und Ehre zu verschaffen oder den Heldentod zu sterben daran, dass der Krieg derweil beendet wurde. Nun wird er von seinem Vater nach Berlin geschickt, um dort in einer Seifenfabrik Kenntnisse zu gewinnen, die ihm bei der Übernahme des väterlichen Betriebs in der Türkei nützlich sein sollen. Doch der Jüngling hat nicht Seifenlauge im Sinn und seine Besuche der Fabrik werden seltener. Er lässt sich stattdessen durch das dekadente Berlin treiben.
Die Stadt in den unruhigen 1920er Jahren wird dabei anhand der sensiblen moralischen Impressionen des Ich-Erzählers Raif entwickelt. Zu der häufig geäußerten Ansicht, die „Madonna im Pelzmantel“ sei ein Großstadtroman oder gar typischer Berlinroman muss man anmerken, dass sich hier nicht an die großen Vorbilder wie Joyce oder gar Döblins „Alexanderplatz“ denken lässt. Diese Romane zeichnete mit ihrer avancierten Expressivität eine Erzählweise aus, die im Exzess und im Futurismus des urbanen Molochs selbst verwurzelt, aus ihr destilliert war. Mit solch halbgaren Vergleichen tut man der „Madonna“ keinen Gefallen, denn Sabahattin Ali geht es um den Verlust der Bindung seiner Figur an das äußere Leben schlechthin. Berlin wird, sicher gelungen, als Zentripetalkraft geschildert, die auf den Erzähler einwirkt. Es ist, zur Orientierungslosigkeit der Figur passend, Kulisse der Nicht-Handlung, beschrieben in einem naturalistisch inspirierten Stil.
Raif, der mit allerlei gestrandeten Figuren in einer Absteige herbergt, treibt sich hauptsächlich in Galerien und Museen herum, wo er sich ungestört seinen Impressionen hingibt. Eines Tages erblickt er in einer Galerie das fotografische Selbstporträt einer jungen Künstlerin, welches ihn magisch in seinen Bann zieht. Die Abbildung erscheint ihm als Projektion all seiner Sehnsüchte und wirkt auf ihn als kairologisches Mysterium, das ihm den Bildersaal seiner Erinnerungen erschließt und alle Verheißungen der Zukunft bedeutet. Freilich hapert es an Gegenwärtigkeit, so dass Raif vor lauter Versunkenheit in das Bild die Bekanntschaft mit der Porträtierten versäumt.
Das Gemälde, im Original unbetitelt, bekommt in einer Zeitungsbesprechung den Titel „Die Madonna im Pelzmantel“ verliehen, in einer Reminiszenz an die „Harpyenmadonna“, das berühmte Altargemälde Andrea del Sartos aus dem Jahre 1517. Das Renaissancegemälde zeigt eine anthropozentrische Darstellung der Mutter Gottes, es wirkt, als sei die Göttliche in ihrer Abkehr unantastbar und doch in ein menschliches Leben der Anstrengungen und Mühen verstrickt. Diese Beschreibung zeichnet die Rolle der „Madonna im Pelzmantel“ im Roman.
Mit rasender Hingabe verliebt und verliert sich Raif in dieses Abbild seines Herzens. Er sieht in dieser Madonna das göttliche Element seiner eigenen Wünsche nach Erlösung durch eine ätherisch zu nennende Liebe. Der Pelzmantel dieser Madonna ist das Symbol jener modernen Verstrickung in die Halbwelt des urbanen Lebens, denn wie sich herausstellt, Raif und seine Vergötterte lernen sich bald kennen, ist die Künstlerin auch Nachtclubsängerin. Maria Puder, die Symbolik des Namens korrespondiert mit dem Titel ihres Selbstporträts, ist das doppelte Symbol für Raifs Sehnsucht nach umfassender Reinheit des Sentiments, und zugleich für den Schuldzusammenhang, der mit der triebhaften Seite seines Wollens einhergeht.
Es kommt wie es in dieser fatalen Konstellation kommen muss. Die Beiden verlieben sich tatsächlich ineinander und solange ihre Zuneigung platonisch gelebt wird, wähnt sich Raif dem Himmel sehr nah und auch Maria, die ihr Missverstandensein zur Tugend kultiviert hat, meint es ernst. Die letzte Distanz zwischen ihnen ist die körperliche Seite der Liebe. Nach einer trunkenen Nacht geschieht es und nichts ist mehr danach wie es war.
Bald darauf wird Raif zurück in die Türkei beordert, überraschend ist sein Vater verstorben – symbolisch ist der Schritt zum Mann getan, seine Initiation ist aber durch den Tod des Vaters, wie auch durch die Verletzung des Sakrilegs ihrer Liebe, in tiefe Schuld getaucht. Raif Efendi kann zu keiner zielgerichteten Handlung sich befreien. Maria und er planen überstürzt sich irgendwann zu vereinigen, dann reist er ab. Und auch der Briefkontakt wird seitens Marias nach einigen Monaten eingestellt.
Ohne sein anschließendes Leben der Erwähnung besonders Wert zu finden, führt Efendis Bericht aus, wie er ohne Liebe geheiratet hat, Vater geworden ist und all das mit einem Gefühl resignativer Ergebung erduldet hat, einzig aus der abgelebten Hülle seiner Vergangenheit einen letzten Funken beziehend. Einen Tag vor der Niederschrift seiner Erinnerungen erfährt die Liebesgeschichte ihre endgültige Auflösung, die die Tragik fortschreibt.
Sabahattin Alis „Madonna im Pelzmantel“ ist ein sicher komponierter und mit einer fast bescheidenen Sprache warm erzählter und eindringlicher Liebesroman. Sein Thema, der fatale Zusammenhang von Liebe und Schuld im Leben, buchstabiert er nahtlos durch. Stellenweise erinnert dieser Roman an Manns „Tod in Venedig“. Allerdings bleibt Kritik an der Rahmenhandlung zu üben, die ihre erzählerische Funktionalität nie überschreitet und uninspiriert bleibt.
Von Mirco Drewes
Literaturangaben:
ALI, SABAHATTIN: Die Madonna im Pelzmantel. Übersetzt aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen. Dörlemann, Zürich 2008. 252 S., 19,80 €.
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