Werbung

Werbung

Werbung

Einer ging an den Grenzen entlang

Wolfgang Büschers wandernde Suche: „Deutschland – eine Reise“

Von: ROLAND H. WIEGENSTEIN - © Die Berliner Literaturkritik, 14.02.06

 

Wenn einer zu Fuß von Berlin nach Moskau gelaufen ist, warum sollte er nicht auch einmal Deutschland umrunden und dabei gelegentlich die Nachbarländer streifen: wieder zu Fuß, in Bussen, Eisenbahnen, wenn’s denn sein musste. Was ist des Deutschen Vaterland? Oder: wie fühlt es sich an, wie riecht es, schmeckt es (auch das!), wenn man seine Grenzen abschreitet, noch drinnen und doch schon halbwegs draußen?

Wolfgang Büscher ist ein Wanderer wie einst Seume, der bis nach Syrakus lief, manchmal verlässt er seinen Redaktionsschreibtisch und macht sich auf den Weg, mit kleinem Gepäck und offenen Augen. „Deutschland – eine Reise“ hat er sein Buch genannt. Es könnte auch „Einblicke“ heißen. Am Niederrhein ist er durch den Fluss geschwommen, nach Emmerich hineingegangen. Dort bereits beginnt der basso continuo, der das ganze Buch hindurch tönt, manchmal sehr leise, aber stets vernehmlich: Emmerich beging gerade den Jahrestag seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg: „Dann war es so still, dass ich eine panische Sekunde lang dachte, ich sei taub. Ich rieb meine Ohren, da ist Wasser drin, sagte ich mir, du kommst aus dem Fluss. Doch die Stille blieb. Sie war in den Gassen, im Land – echolos, traumlos. Es war eine Stille wie nach dem Einschlag eines ungeheuren Meteoriten. Taube Glieder, taube Bewegungen, immer noch. Noch immer setzt sich der Staub… Er braucht zweihundert Jahre, allein der Staub weiß, was er braucht. Der Einschlag ist immer noch in der Luft. Er löscht alles, was vorher war. Er dringt durch alles, was vorher war. Er dringt durch alles, durch die Haut, durch die Gedanken, durch das ganze verlorene Land, durch dich und mich.“

Die Stille der Provinz

Büscher ist weitergegangen, Richtung Nordsee, ist der Küste gefolgt, dann abgebogen gen Osten, wieder längs der Küste, durch Mecklenburg bis nach Pommern. Von dort nach Süden, Brandenburg, Thüringen, Sachsen, am Böhmerwald entlang, nach Westen durch Bayern ins Alemannische, und wieder nordwärts: Elsass, Ardennen, Aachen, zurück an den Niederrhein. Von Oktober bis Weihnachten. Er hat „die Stille der Provinz“ gesucht, etwas, das übrig geblieben ist, beiseite gelassen (wenn schon nicht unbeschädigt) von den Zeitläufen, von jener atemlosen Moderne, deren Teil demjenigen unvermeidlich ist, der 1968 in Berlins Hörsälen gesessen hatte, als man dort die Revolution unter Papier begrub, einem, der wissen will, was eigentlich das Wort „Deutschland“ bedeutet und wo zu finden ist, was es meint.

Er berichtet von beiläufigen und unvergesslichen Begegnungen mit Menschen, solchen mit verbogenem Rückgrat und solchen von aufrechtem Gang; vom Maler an der Küste gegenüber von Sylt, der einmal ein Bankier gewesen ist, von Hippies, die kaum noch wissen, warum sie es einmal geworden waren, aber auch von der alten Frau in einem einsamen Hotel in der Eifel, das bald zumachen wird. Oft war er der einzige Gast in solchen Herbergen, die ihre gute Zeit längst hinter sich hatten. In Hiddensee notiert er im Vorübergehen: „Links hatte Gerhart Hauptmann gewohnt, rechts Markus Wolf. Das erwähne ich nur so, ich mache mir nichts aus alten Dichterhäusern, ich finde, sie riechen schlecht, und es hat etwas Vulgäres, sein Gaffen in den Ledersesseln, Weinkellern und Sterbebetten dieser Leute spazieren zu führen.“

Die Weisheit des Kleinbürgers

Büscher ist oft jener unzerstörbaren Spezies begegnet, die man abschätzig „Kleinbürger“ nennt. Manchmal schüttelt ihn Abscheu, aber er begreift auch etwas bei ihrem Anblick, schmerzhaft und getrost zugleich, hört den (leisen) Oberton zum basso continuo. Es war in Pommern:

„Zum Abschied sagte die Frau einen Satz, den ich immer für Propaganda gehalten hatte, sie sagte: ‚Nie wieder Krieg’. … Es war ihr Leben in einem Satz, es war keine Propaganda. Sie saß in ihrer Wohnstube neben ihrem Mann, aufrecht, die Hände in den Schoß gelegt… Ich dachte, sie haben es warm auf ihre alten Tage –plötzlich schoss mir dieser sentimentale Satz durch den Kopf. Ich sah… die tickende Stille der Wohnstube, den tiefen Wunsch nach Frieden, und mir schien, dass ich in diesem Moment die neue deutsche Seele verstand. Die danach. Nach dem Meteoritenscheinschlag das eherne Idyll der Wohnzimmer und Vorgärten, die Rehe und Zwerge und tränenden Clowns der einen. Und die Peace-Runen und Erich-Fromm-Schmöker und die Poster mit den auslaufenden Dalì-Uhren der anderen. Denn die Unterschiede zwischen beiden waren gering. Alle meinten dasselbe. Alles, alles, nur kein Krieg. Das Deutschland meines Lebens hatte sich stark verändert von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, aber diese Sache war immer gleich geblieben.“

Überflüssige Städte

Es sind fünf Jahrzehnte inzwischen: Büscher wurde 1951 geboren. Zu spät, um den „Meteroriteneinschlag“ des Krieges selbst erfahren zu haben, alt (und jung) genug, um seine Schäden und das Echo in den Menschen zu spüren. Nicht nur Pommernland ist abgebrannt: auf Trümmer, Beschädigungen von Menschen und Lebensschicksalen stößt er allenthalben. Wenn man nur genau genug hinsieht – Büscher tut es – dann wird der Unterschied zwischen dem vom Krieg verschonten, vom Nachkrieg im Stich gelassenen und nun zur schönsten Renaissance-Kulisse im neuen Deutschland heraus geputzten Görlitz, den total kaputten, weil ökonomisch überflüssig gewordenen Städten Guben und Schwedt und dem um seine frühere Bedeutung gebrachten Pforzheim kleiner: Alle Dörfer, Städte, Menschen zeigen ihm ihre Wunden. Nicht demonstrativ, sondern einfach so.

Büscher ist ein genauer, von der Geschichte belehrter Beobachter, in dessen Gemüt ein deutscher Romantiker sein Wesen treibt. In Görlitz (und anderwärts) überfällt dies Wesen ihn: „Die Stadt stellte sich schlafend. Aber ich sah ihre halb erhobenen Torbogenbrauen, die halb geschlossenen Gaubenlider. Es war der leichte Schlaf eines zeitsatten Orts. Späte Stimmen und Schritte, Lachen, Flüstern. Es gibt eine Nachtstille, die musikalisch ist, den Nachtfrieden alter Städte. Die abgedroschenen Gedichte, sie sind alle wahr.“

Umkreisung der Heimat

Er sieht, was überall falsch gelaufen ist und sucht nach dem „richtigen Leben im falschen“ (das es Adorno zufolge zwar nicht geben dürfte, und das doch existiert.) Er schiebt historische Exkurse ein, nüchtern konstatierend im Kapitel über das KZ Flossenbürg und seine berühmten Insassen, fasziniert im Kapitel über Franz Anton Mesmer, der durch Handauflegen heilte oder dem über den fanatischen Prediger Cordier, der um 1950 junge Leute aus der im Februar 1945 durch Bomben zerstörten Stadt Pforzheim bis nach Patagonien führte, in ein neues, hartes, kommunitäres Leben. Kein Baghwan, sondern schwere Arbeit, später Versuch, noch einmal den Rigorismus der Hutterer, der Amish zu beleben. Büscher ist an solchen Figuren interessiert – Anknüpfungspunkte findet er immer: Die Orte, durch die er kommt, bieten sie ihm an. Kein Besserwisser: einer der schon etwas weiß und der mehr wissen will von dem Vaterland, das er umkreist.

Der Ertrag ist beträchtlich, keiner, der sich verscherbeln ließe im Wahn einer Modernität, die Globalisierung heißt. Der Schlüsselsatz seines Buchs ist so einfach wie rätselhaft: „Heimat ist Gegenzauber.“ Ein abgründiger Satz.

Literaturangaben:
BÜSCHER, WOLFGANG: Deutschland – eine Reise, Rowohlt Verlag Berlin, Berlin 2005, 250 S., 17,90 Euro.

Roland H. Wiegenstein arbeitet als freier Literatur- und Kunstkritiker für dieses Literaturmagazin. Er lebt in Berlin und Italien


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: