„Geheimnis“ ist der Titel von Juri Andruchowytschs neuestem Buch, das im Ukrainischen den Zusatz anstelle eines Romans trägt. In sieben Kapiteln erzählt der galizische Romancier und Essayist, der in Deutschland als literarischer Auskunftsgeber in Sachen Ukraine gilt, sein Leben und schwelgt dabei in Anekdoten aus der späten Sowjetunion und dem osteuropäischen Chaos nach dem Epochenbruch. Der Autor der Erfolgsromane „Zwölf Ringe“ (2005) und „Moscoviada“ (2006), Verfasser zahlreicher Artikel zum gesellschaftlichen Wandel in Mittelosteuropa, erweist sich einmal mehr als unermüdlicher Erzähler, bei dem Wirklichkeit und Fiktion, das politische Tagesgeschehen und das Poetisch-Subjektive ineinander fließen.
Der Band lebt von dem phänomenalen Erinnerungsvermögen des 48-Jährigen, welches es ihm „erlaubt, alles zu tun, was er will“, sowie von seinem locker-ironischen Tonfall. Immer wieder geht es um Reisen und die Euphorie von Aufbruch und Heimkehr, um Grenzüberschreitungen und Sprachgrenzen, um Widerstand und Anpassung im System, und Rückzug ins dichterische Geheimnis. Letztere werden als Schlüsselbegriffe in Blockbuchstaben gehalten.
Erzählt wird in Form eines siebentägigen Interviews in Berlin, einem der von Andruchowytsch bevorzugten Zentren Europas. Die Fragen stellt ein gewisser Egon Alt, gleichaltriger Literaturkritiker und Journalist, der dem Befragten sehr ähnliche Denk- und Trinkgewohnheiten an den Tag legt, und dessen Hosentaschen beim ersten Treffen in der Rahmenhandlung allerlei Merkwürdigkeiten ans Licht fördern. Wie der Verfasser im „möglichen Vorwort“ erklärt, kommt Alt wenige Wochen nach Interviewaufzeichnung auf seltsame Weise ums Leben, ohne ein auffindbares Grab zu hinterlassen. Und anstelle des Journalisten, der vorhatte, ein posthumes literarisches Porträt über den ukrainischen Dichter zu veröffentlichen, ist es nun an dem Interviewten selbst, etwas aus den bespielten Bändern, mit „dem ganzen Schrott samt Pausen, Dehnungen, Ähs und Ehems“ zu machen. Statt zum journalistischen Bericht wird das Material nun künstlerisch zum ironisch-postmodernen Gespreche verarbeitet.
Der Tod des Kritikers wird damit zur Entstehungsbedingung des verhinderten Romans oder zum Alibi einer etwas anderen Autobiografie, die sich scheut, den Autor zu nennen und stattdessen lieber auf die „Phantasie eines viel größeren Autors“ verweist. Überhaupt ist „Geheimnis“ nicht zuletzt ein Buch über die Leichtigkeit des Augenblicks gegenüber der Schwere des Ewigen. Da der Dichter entgegen der Erwartungen Alts zur Zeit der Veröffentlichung seiner Biografie noch am Leben ist, fehlt ihr das Gewicht, welches der Biograf ihr gerne gegeben hätte. Sicherheitshalber wird darauf hingewiesen, dass „alle handelnden Personen frei erfunden sind, und jede Übereinstimmung von Namen und Ereignissen rein zufällig ist.“
Lediglich hier und da schimmert das Metaphysische des Geheimnisses durch: Der Tod ist aller Anfang und Ende und lauert bereits im ersten Kapitel unter roten Dielenbrettern und auf einer deutschen Kneipentoilette. Er begegnet dem Dichter täglich in Form von Morgenmelancholie, und schleicht sich in die Aufbruchsstimmung des Frühlings. Großmutter Irenas Tod ist ein leises Beiseitetreten und Platzmachen für die Lebenden. Sie hat das gesamte zwanzigste Jahrhundert erlebt, was in Galizien sechs unterschiedliche politische Regimes bedeutet – die ständige Neudefinition der äußeren Realität.
Sinnbild für das Leben an der Peripherie ist der Acht-Sekunden-Mann, der in einer der vielen Erzählungen Andruchowytschs auftaucht: Alle acht Sekunden verliert dieser sein Bewusstsein, löscht alle Erinnerungen und beginnt ein neues, extrem begrenztes Leben. Auch der Dichtervater stirbt, nachdem er durch verschiedene Identitätsphasen gegangen ist, und wird letztendlich als wichtigster Zuhörer im Leben des Autors erinnert. Gegen Ende des Buches kann sich der Leser nicht mehr des Gefühls erwehren, der Verfasser habe im Journalisten Egon Alt sein Alter Ego gefunden, das an die Stelle des verstorbenen Vaters getreten ist und nun seinen Geschichten lauscht. Alts Tod ist daher unvermeidlich und nimmt in gewisser Weise das Ende des Buches voraus, an dem der Befragte zu seinen Vorfahren und damit an den Anfang zurückkehrt.
Der Kreis schließt sich im siebenten Kapitel, das am siebenten Interviewtag gesprochen wird. Nach sechs alkoholisierten Gesprächstagen zu den Themen Kindheit in Franyk (Kapitel eins), Studienzeit in Lemberg (Kapitel zwei), Armeezeit (Kapitel drei), und dichterischer Karriere samt karnevalistischer Systemverunsicherung in der Satiregruppe BuBaBu sind die Protagonisten Egon und Juri in der Gegenwart angekommen und ziehen gemeinsam durch das heutige Berlin. Ging es in den vorangegangenen Kapiteln um die Vergangenheit, so holen die Erzählungen des Dichters nun die äußere Gegenwart der Rahmenhandlung ein und wirken auf sie ein. Was die zwei Herumstreifenden ersinnen wird wahr, und was um sie herum passiert, wird für den Leser erst durch die Übersetzung in Worte greifbar. Das durch die Rahmenhandlung zum Roman avancierte Ganze erinnert an die Werke, die Andruchowytschs Schriftstellerkarriere beeinflusst haben: das Geheimnis um die Identität des „Blonden Eckbert“ in Tiecks gleichnamigem Märchen, die skurrile Autobiografie des „Katers Murr“ von E.T.A. Hoffmann, die Erscheinung des Teufels bei Bulgakov.
Erzählung und Realität fallen endgültig zusammen, als beide an der Neuen Synagoge vorbei durch die Oranienburger Straße wandern und der Autor seinem Gegenüber vom geplanten Roman „Geheimnis“ erzählt, in dem zwei an eben dieser Synagoge vorbeispazieren und dabei reden. Das „Geheimnis“ aus dem Titel wird somit zum Geheimnis der Identität von Erzähler und Erzähltem, oder zum Geheimnis der Verbindung zwischen Realität und Sprache. Schließlich muss die Welt zuerst gedacht und in Begriffe gefasst werden, bevor sie bewusst, und damit real wird. Europa beispielsweise ist Andruchowytschs Ansicht nach „überall dort, wo die Menschen glauben, dass sie in Europa sind.“ Seine Zentren sieht er überall da, „wo Europa glaubt, aufzuhören“, wo Austausch stattfindet und Sprachen aufeinander treffen. „Es war und ist eine Pflanzstätte der phonetischen, syntaktischen, idiomatischen, akustischen und also auch poetischen Möglichkeiten dieser Welt.“
Dem Ideal der kulturellen Einheit eines Kontinents steht die Idee des einheitlichen Subjekts gegenüber. „Geheimnis“ sagt uns, dass man keinen Menschen auf einen Begriff bringen kann. Jeder Mensch ist in ständiger Entwicklung, und man könnte unendlich viele widersprüchliche Geschichten über ihn erzählen. Er ist von keinem Zentrum aus, sondern nur von den Rändern des Umbruchs, an denen er aufhört und neu beginnt, zu verstehen.
Seine Philosophie der Peripherie als Zentrum beweist der Autor auch in der Struktur von „Geheimnis“: Die eigentliche Handlung findet im Vorwort und im letzten Kapitel statt, während am dritten Tag, an zentraler Stelle im Buch, über die Armeezeit des Schriftstellers reflektiert wird, und das System über den Dichter dominiert. Wer in dieser Lektüre nicht primär an Unterdrückungsmechanismen in autoritären Systemen interessiert ist, kann hier getrost überblättern und sich auf die Ränder konzentrieren.
Von Katrin Springer
Literaturangaben:
ANDRUCHOWYTSCH, JURI: Geheimnis. Sieben Tage mit Egon Alt. Übersetzt aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 387 S., 24,80 €.
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