Unter der Herausgeberschaft Peter von Matts hat der Poet Philippe Jaccottet die „Lyrik der Romandie“ um sich versammelt. Die persönlich ausgewählten Gedichte finden sich in einer deutsch-französischen Anthologie wieder, jeder Poet erhält eingangs eine private Hommage aus Jaccottets Erinnerungsfundus. Dieser stimmt so nicht nur poetisch ins Poesiemeer ein, sondern erinnert, reflektiert, kritisiert, und schwelgt zugleich im Vergangenen der Zeit. Chronologisch lässt Philippe Jaccottet siebzehn Autoren sprechen, darunter eine Autorin. Während die Erstgenannten noch im vorvorigen Jahrhundert geboren wurden, leben Letztere noch. Jüngere Autoren aus der Romandie, also den französischsprachigen Kantonen Genf, Waadt, Neuenburg und Jura, fehlen.
„Je näher ich trete, je mehr weich ich zurück. […] Das Gelände, das uns einschließt, es brennt.“ Diese Zeilen aus einem Gedicht Pierre-Louis Mattheys geben einen intensiven Vorgeschmack auf diesen Poesieband. Nicht umsonst beschränkt sich diese Ausgabe auf einen kleinen, einen besonderen Teil französischsprachiger Poesie. Es handelt sich um eine Sprache aus dem Gebirge. Viele der Dichter verließen ihre Heimat selten, bisweilen nie. Einsiedlerisch, einsam, rau wirken die einen, überwältigend naturnah und puristisch erfrischend die anderen Poeme. Fast ausnahmslos ziehen sich die Gedichte über viele Seiten hin. Balladesk, respektive ins prosaisch Lyrische ausufernd sucht man das „klassische Gedicht“ vergebens. Man reimt in der Westschweiz nicht mit System. Der Klang speist sich aus dem Inneren und mit Passion. Wie ein Gebirgsbach dringt die kühle Frische hinauf und spült die Gedanken des Rezipienten frei.
Interessant ist, dass sich die praktizierte Formfreiheit stringent bis in die Gegenwart fortspinnt. Jaccottet äußert sich zu diesem Phänomen im Nachwort. Er erklärt den Charakter dieser Gebirgspoesie, bittet – unnötigerweise – beinahe um Verständnis für „mangelnde Phantasie“ und einen „Sinn für Maß und Ernst“. Bisweilen assoziiert er geschichtliche Ereignisse und die nachbarschaftlichen Einflüsse Frankreichs, um Inhalte herauszukristallisieren. Diese Hinweise des Eingeweihten verhelfen dem Leser zu einem besseren Verständnis.
Seit Längerem ist ein genereller Trend zurück zur Naturlyrik zu erkennen. Die Poesie aus der Romandie mitsamt ihrem Hauptmotiv „Natur“ wirkt demnach gar nicht verstaubt und Jaccottet braucht diese lang währende Tradition nicht zu rechtfertigen. Gerade der authentische, aufrichtige Duktus versprüht doch diese Intensität, die den Leser auf eine Reise durchs Gebirge schickt.
Von Stephanie Tölle
Literaturangaben:
JACCOTTET, PHILIPPE (Hrsg.): Die Lyrik der Romandie. Eine zweisprachige Anthologie. Übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Nagel & Kimche, München / Zürich 2008. 261 S., 21,50 €.
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