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Ekel und Faszination: „Piercing“

Ein Roman über die Wechselwirkungen von Sex und Macht—abstoßend und fesselnd zugleich

© Die Berliner Literaturkritik, 16.06.09

Von Claire Horst

In Japan und dem englischsprachigen Raum wurde Ryu Murakami spätestens mit seinem Roman „Coin Locker Babies“ (1980) bekannt. Darin schildert er das Leben von zwei Jungen, die im Säuglingsalter in Schließfächern ausgesetzt wurden und zu sehr unterschiedlichen, wenn auch gleichermaßen gestörten Persönlichkeiten heranwachsen. Im Jahr 2006 erschien auf Deutsch der Roman „In der Misosuppe“.

Murakami ist in Japan nicht nur als Romancier ein Star. Auch als Drehbuchautor und Regisseur hat er sich einen Namen gemacht. Sehr erfolgreich war in Deutschland sein Film „Audition“ von 1999 (Regie: Takashi Miike), in dem die Anhörung potentieller Schauspielkandidatinnen in eine Sadomaso-Folterszene mündet.

Immer wieder treiben Murakami die gleichen Fragen um. Wie funktioniert das Leben in einer technokratischen Gesellschaft, in der für persönliche Freiheit kaum Raum besteht? Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Sex und Macht? Welchen Einfluss haben tiefste Verletzungen auf menschliches Verhalten? Der Film „Audition“ wurde vom Publikum teilweise als unerträglich empfunden—eiskalt sezierend zeigt er brutalste Folterszenen. Dabei werden Mechanismen aufgezeigt, von denen die meisten Menschen nicht mehr als nötig wissen wollen. Und doch sind viele zugleich fasziniert und abgestoßen von der eigenen Faszination.

Ganz ähnlich funktioniert auch der Roman „Piercing“, der in Japan schon 1994 erschien. Auch hier ist es das Spiel von Sexualität und Macht, das den Autor beschäftigt. Kawashima ist ein junger Grafikdesigner, verheiratet und frischgebackener Vater einer Tochter. Auf den ersten Blick ist alles in Ordnung. Kawashima liebt seine Frau und sein Kind und ist beruflich erfolgreich. Und dennoch stimmt etwas nicht. Jede Nacht steht er mit einem Eispickel am Bettchen seiner Tochter, legt ihr die scharfe Spitze an die weiche Haut und kämpft mit dem Drang zuzustechen.

Woher diese Obsession kommt, wird nach und nach deutlich. Kawashima ist ein von seiner unglücklichen Kindheit zutiefst traumatisierter Mensch. Von der Mutter ungeliebt, geschlagen und schließlich weggegeben, leidet er an seinen tiefen Verletzungen. Immer wieder taucht die Mutter vor seinem inneren Auge auf, ihr schreibt er auch seine Spaltung in zwei Personen zu. Denn besonders in Momenten großer Anspannung hat er das Gefühl, von oben beobachtet zu werden, hört Stimmen und teilt sich in eine Schmerz empfindende und eine davon losgelöste Person.

Bereits einmal hat Kawashima seinem Hang zur Gewalt nachgegeben. Seine erste Beziehung führte er mit einer älteren Frau, die als Prostituierte tätig war. Sie hat er in den Bauch gestochen. Um den Drang nach der Ermordung seines Kindes loszuwerden, schmiedet er einen—buchstäblichen—Schlachtplan. Eine Prostituierte soll sein Opfer werden. Mit ihr hofft er das Bild seiner Mutter und die eigene Mordlust abzutöten. Detailliert plant er sein Vorgehen: in einem Notizbuch notiert er jeden einzelnen Schritt: „Einfache Jeans und einen Pulli zum Wechseln. Etwas möglichst Platzsparendes. Einen Pulli aus dünnem Material. Gleiches gilt für die Jeans. Zwei Paar gut sitzende Lederhandschuhe. Große Achtsamkeit bei der Benutzung der Handschuhe.“

Ebenso verstörend wie das Thema, die Lust am Foltern und Töten, ist die Sprache, in der dieses Thema dargestellt wird. Vollkommen emotionslos, strategisch und zielgerichtet sind das Handeln des Protagonisten wie die Sprache des Erzählers und erinnern dabei an Autoren wie Bret Easton Ellis und Michel Houllebecq. Weniger überzeugend ist allerdings die psychologische Komponente des Romans. Immer wieder melden sich die Stimmen im Kopf des Protagonisten zu Wort, immer wieder und allzu deutlich und eindimensional stellt die Erzählung klar, wer an diesen Stimmen die Schuld trägt: die lieblose Mutter.

Um seinen Plan durchzuführen, nimmt Kawashima Urlaub, mietet sich in einem Hotel in der City von Tokio ein und bestellt eine Prostituierte. Ganz nebenbei erfährt man irritierende Details, etwa, dass in japanischen Businesshotels „Erotikkataloge“ mit einen reichen Angebot an Frauen ausliegen und dass ein derartiger „Urlaub“ gesellschaftlich völlig akzeptabel ist—Kawashimas Chef verabschiedet ihn mit der Empfehlung, sich während seiner Erholungszeit kein HIV einzufangen.

Kawashimas Plan geht nicht so auf, wie er es sich vorgestellt hatte. Denn auch Chiaki, die Frau, die er bestellt hat, trägt schwer an ihren Verletzungen. Auch sie wurde als Kind misshandelt. Aus den Vorprägungen der beiden Versehrten ergibt sich ein kompliziertes Netz der Fehlinterpretationen und Falschdeutungen. Murakami lässt ihre Gespräche und äußeren Handlungen mit ihren Gedanken und den Stimmen in ihren Köpfen verschmelzen. Neben der äußerst blutigen Handlung—ein durchgebissener Finger gehört noch zu den harmloseren Details—versucht Murakami sich an einer Auseinandersetzung mit der psychischen Deformierung seiner Protagonisten.

„Piercing“ löst zwar Ekel aus, ist zugleich aber faszinierend genug, um in einem Rutsch durchgelesen zu werden. Trotzdem bleibt ein ungutes Gefühl. Falls hier gesellschaftliche Strukturen kritisiert werden sollen, fehlt ein entscheidendes Detail: der Blick aufs Ganze. Denn schockierend ist ja nicht die Tatsache, dass einzelne Menschen so verletzt sind, dass sie ihren Schmerz weitergeben. Schockierend sind die Tatsachen, die Murakami nur am Rande interessieren—dass „Mädchen“ Katalogware sind, dass ein Rezeptionist auf Schmerzensschreie aus dem Hotelzimmer mit der Bitte um „Rücksicht“ auf die Nachbarn reagiert.

Literaturangabe:

MURAKAMI, RYU: Piercing. Übersetz aus dem Japanischen von Sabine Mangold. Verlag Liebeskind, München 2009. 176 S., 16,90 €.

Weblink:

Verlag Liebeskind


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