Werbung

Werbung

Werbung

Elegie der Vergeblichkeit

Antonio Tabucchis Roman „Tristano stirbt“

Von: ROLAND H. WIEGENSTEIN - © Die Berliner Literaturkritik, 07.12.05

 

„Es war nicht nur möglich, es war das einzig Vernünftige, das wir tun konnten, denn wenn das Ungeheuer besiegt ist und man nicht mehr an die glaubt, die das Ungeheuer besiegt haben, kann man nur noch an die eigenen Träume glauben… die Verantwortung beginnt im Traum, sagte ich zu dir, diesen Satz verwendeten wir als Motto für unsere kleinen Bücher, denn unsere Hand reicht nur bis zum Ende des Arms, aber der Traum reicht viel weiter… er ist eine Prothese; er bricht aus dem Gefängnis der Existenz aus.“

Warten auf den Tod

Gedichte zu schreiben und zu publizieren, das „einzig Vernünftige“? Tristano sieht es so: Er liegt in einem Haus in Italien und wartet auf den Tod, ein Bein schon vom Wundbrand befallen – ein alter Mann, der sich einen Schriftsteller ans Bett geholt hat; einen, der bereits einmal über ihn geschrieben, über seine heroischen Taten während der Zeit des Widerstands 1943/44 in Italien berichtet hatte. Er soll zuhören, was der alte Mann auf dem Totenbett zu erzählen hat – auch über die Heldentaten, die womöglich gar keine waren. Er soll eine Lebensbilanz festhalten – ohne Tonband – die nur noch in Schüben, ohne chronologische Stringenz aus Tristano hervorbricht, zwischen den Morphiumspritzen gegen die unerträglichen Schmerzen: All das, was einer erlebt und vielleicht nur geträumt hat während der fünfzig Jahre, die ihm nach dem Krieg blieben.

Tristano redet von sich sowohl in der ersten als auch der dritten Person. Die zweite dazwischen, das ist das Du, der Schriftsteller, der zuhört. Ob der Sterbende wirklich die deutsche Patrouille erschoss und zum Führer eines Kommandos der „Resistenza“ aufstieg; ob er in den fünfziger Jahren wirklich auf Kreta einen kleinen Verlag gründete und darin Gedichte in kostbarem Handdruck herausgab; ob er nach Spanien ging, um „Rosamunda“ wiederzufinden, die im Krieg als amerikanische Agentin hinter den feindlichen Linien agierte und die er geliebt hat; ob es das griechische Mädchen Daphne wirklich gegeben hat, das Tristano vor den Deutschen rettete, damals, als diese die italienischen Truppen in Griechenland nach dem Waffenstillstand des Marschalls Badoglio in Lager sperrten und Mussolini nur noch als lächerlichen „Duce“ einer lächerlichen Republik am Gardasee benutzten; ob er wirklich einen Jungen adoptierte, der als lebende Bombe umkam, wer weiß im Namen von welcher Ideologie – es kann sich alles so zugetragen haben, wie es Tristano in einem heißen Augustmonat berichtet; aber es kann auch ganz anders gewesen sein: ein lebenslanger Traum.

Antonio Tabucchi, der seine Affinität zu Träumen seit je pflegt, für den Wirklichkeit etwas anderes, Unheimlicheres ist als das, was vor aller Augen liegt, hat in „Tristano stirbt“ eine Elegie geschrieben, nicht seine erste: eine Elegie auf ein unheilvolles Jahrhundert, in dem alle schuldig wurden, durch Tun und Unterlassen, ein Jahrhundert, in dem auf den Untergang des Ungeheuers Hitler die folgten, die selbst zu Ungeheuern wurden, im Namen einer mörderischen Gleichheit oder im  Namen einer Freiheit, die für Tristano, den vielfach Enttäuschten, sich nicht mehr anders darstellt als „vom Denken befreit zu sein, darin, nicht mehr zu denken… die wahre Freiheit besteht darin, nicht mehr zu denken.“ Das hat der große Medien-Zampano zuwege gebracht, der den Menschen das Denken abgewöhnte mit seinen elektronischen Bildschirmen.

Unbändige Trauer

Bitterer, resignierter hat der Schritsteller Tabucchi, der sich doch immer wieder in die politischen Auseinandersetzungen seines Landes (und der Welt) eingemischt hat, nie von verlorenen Hoffnungen, von Illusionen und dem Verhängnis der Moderne geschrieben. Zuweilen holt er sich Eideshelfer ans Krankenbett: Dichter wie Joyce und Hemingway, Philosophen wie Walter Benjamin. Doch sie bleiben so schattenhaft wie alles andere: Schnell vorüberziehende Erinnerungen, vergangen, unwichtig geworden wie Tristanos Liebe zu Daphne, zu Rosamunda, die kaum mehr sein durften als ein kurzes Aufatmen. In der Malerei nennt man eine Technik, die die scharfen Umrisse meidet „sfumato“: Tabucchis Roman ist solch ein „sfumato“, dem Todkranken verschwimmen die Konturen: „Ich komme vom Hundertsten ins Tausendste, und außerdem sind die Dinge nicht von Belang, aber wenn man es recht überlegt, ist bei dieser Geschichte nichts von Belang.“ Nichts außer einer unbändigen Trauer, einem trostlosen Kreisen um Chancen, die es nicht gab und solche, die verpasst wurden, privat wie in der Politik. Was bleibt, das ist die inzwischen auch uralt gewordene Kinderfrau Renate, die ihrem lebenslangen Schützling jeden Tag ein Gedicht vorliest, oft ein deutsches, denn Renate ist Deutsche. Manchmal begreift Tristano es, oft ist es nur eine willkommene Unterbrechung auf dem Weg ins Dunkel, so wie der zuhörende Schriftsteller eine Unterbrechung ist oder der Arzt, der ihn mit Medikamenten und klugen Reden versorgt. Keine der Figuren hat einen scharfen Rand, im Morphiumnebel changieren sie wie die Wolken am Himmel.

Gegen den Untergang der Welt hilft nur noch die Poesie, die wenigstens Pflanzen, Tiere und Jahreszeiten genau zu beschreiben weiß. Sonst nichts mehr. Die Annäherung des Todes hat schon damals begonnen, als Tristano, der junge Mann, halb noch ein Kind, auf die schoss, die er für seine Feinde hielt. Das war der „Knackpunkt“, vom dem aus alles in ein böses Licht getaucht wurde. Sterbende neigen dazu, sentimental zu werden, Tabucchi hält Tristano davon ab: Er lässt ihn ironisch, zuweilen zynisch reagieren. Der Schriftsteller hat viel Geduld gebraucht, um zuzuhören bis zum Ende, noch mehr, das Ungeordnete dieser Erinnerungen in eine Form zu bringen, die keine falsche Ordnung zulässt. Er überlässt es dem Leser, Traum und Wirklichkeit zu scheiden und weiß, dass jeder Leser das auf andere Weise tun wird. Er setzt auf den Nachhall.

Literaturangaben:
TABUCCHI, ANTONIO: Tristano stirbt. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Carl Hanser Verlag, München 2005. 227 S., 19,90 €.

Mehr zum Thema:

Roland H. Wiegenstein arbeitet als freier Literatur- und Kunstkritiker für dieses Literaturmagazin. Er lebt in Berlin und Italien


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: