Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu. Hrsg. von Hilal Sezgin. Geleitwort von Christoph Peters. Blumenbar Verlag. Berlin 2011. 230 Seiten. ISBN: 978-3-936738-74-2. Euro 12,90.
Von Behrang Samsami
Die Debatte, die Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ im Sommer 2010 entfachte, war aufgeregt und ein Indikator für den krisenreichen politischen und gesellschaftlichen Zustand, in dem sich die Bundesrepublik seit einigen Jahren befindet. Man fragt sich, wie es dazu kommen konnte, dass er mit seinem Buch so erfolgreich wurde. Eine Antwort ist, dass es ihm geschickt gelang, sich mit emotional besetzten Themen auf scheinbar sachliche Weise zu beschäftigen.
Es seien Sorgen um die seiner Meinung nach bedrohte deutsche Mittelschicht gewesen, die ihn nach eigenen Angaben zu seinem Buch inspirierten. Allerdings zeigte Sarrazin keine Bereitschaft, eine wirklich sachliche Diskussion um eine bessere Familien- und Bildungspolitik zu führen. Stattdessen koppelte er seine Furcht um das Aussterben der deutschstämmigen Bevölkerung mit dem bösartigen Vorwurf, dass die Gründe einer angeblichen Abschaffung Deutschlands bei muslimischen Migranten zu finden seien. Ihnen hält er vor, sie würden die Republik unterwandern, indem sie viele Kinder in die Welt setzten und von Transferleistungen des Staates lebten.
Wie sehr Sarrazin mit seinem Buch das Verhältnis zwischen der Mehrheitsgesellschaft und den verschiedenen Minderheiten belastet hat, wird nicht zuletzt an den Reaktionen darauf deutlich. So sehr er von der Politik und den Medien kritisiert wurde, so oft wurde er in Talkshows eingeladen. Hier erhielt er dann noch größere Aufmerksamkeit und die Möglichkeit, weiter Reklame für ein Buch zu machen, das ein Menschenbild vertritt, welches stark von Rassismus, Islamophobie und Ökonomismus geprägt ist. Es drängte sich einem die Frage auf, wem die Diskriminierung primär von türkisch- und arabischstämmigen Migranten dienen soll. In erster Linie nützt sie dem Autor selbst natürlich, offensichtlich aber auch deutschen Politikern wie Horst Seehofer und Angela Merkel, die erklären, dass das multikulturelle Zusammenleben gescheitert sei.
Wie schwer es ist, gegen die nach wie vor bestehenden Vorurteile gegenüber bestimmten Ethnien und Religionen, die durch Bücher wie „Deutschland schafft sich ab“ weiter genährt und gefestigt werden, anzukämpfen, das macht das von der aus Frankfurt stammenden Schriftstellerin Hilal Sezgin herausgegebene „Manifest der Vielen“ deutlich. Darin sind Texte von insgesamt 29 deutschsprachigen Autoren mit und ohne „Migrationshintergrund“ versammelt, die sich mit der Debatte um den Ex-Finanzsenator und sein Buch beschäftigen.
Gemeinsam ist ihnen die Enttäuschung über den Autor und sein Werk und zugleich das Erstaunen über die mediale Inszenierung der nur scheinbaren Diskussion über Integration. Denn was Thilo Sarrazin und seine Unterstützer erreicht haben, stellt das genaue Gegenteil dar: Dadurch, dass Menschen gegeneinander ausgespielt worden sind, ist die Kluft innerhalb der Gesellschaft tiefer geworden. Dieser Prozess geht dabei mit einer Verunsicherung einer Vielzahl von Migranten einher und der sich ihnen aufdrängenden Frage, ob es noch möglich sei, die eigene Zukunft weiterhin in der Bundesrepublik zu planen.
Auch wird in den Beiträgen – verfasst von Schriftstellern wie Feridun Zaimoglu, Ilija Trojanow und Christoph Peters, Wissenschaftlerinnen wie Naika Foroutan und Riem Spielhaus, Filmemachern wie Neco Celik, Schauspielerinnen wie Pegah Ferydoni, Journalistinnen wie Ferdos Forudastan und Amtsträgern wie Aiman Mazyek – ein gewisser Rückschritt in den Bemühungen festgestellt, Multikulturalität hierzulande als eine Selbstverständlichkeit anzunehmen. Dass Versäumnisse und Fehler auf beiden Seiten, auch bei den Migranten, begangen worden sind, wird von den Autoren bejaht und diskutiert. Hierbei wird auch mit Verweisen auf die eigene Biografie versucht, den Lesern das Leben der Migranten näher zu bringen, ihr Denken und Handeln nachvollziehbar zu machen und dadurch die Gründe für die unterschiedlichen Arten des „Ankommens“ in Deutschland aufzuzeigen. Sämtliche Texte eint schließlich die Hoffnung nach (mehr) Empathie, nach der Fähigkeit, sich in den jeweils anderen hineinzuversetzen.
Kritik üben die Autoren auch daran, dass Thilo Sarrazin und seine Mitstreiter am eigentlichen Thema vorbei redeten: Es gehe ihnen im Grunde nicht um die tatsächliche Aufarbeitung der Schwierigkeiten, die die Menschen beschäftigten. Die Argumentation der Autoren überzeugt: Die Bildungsdefizite, die bei den Migranten festgestellt werden, seien nicht auf deren ethnische oder religiöse Herkunft zurückzuführen. Es handle sich vielmehr um soziale Probleme, wie sie auch im deutschstämmigen Prekariat existierten. Dazu gehören eine geringe Ausbildung, mangelnde Sprachkenntnisse, fehlende Perspektiven für die Zukunft und lange Arbeitslosigkeit. Kurz gesagt, stellt die soziale Exklusion die eigentliche Ursache für Frustration, Gewalt und Kriminalität dar.
In den Texten wird darüber hinaus der durch die Sarrazin-Debatte entstandene Image-Schaden nicht nur inner-, sondern auch außerhalb Deutschlands präzise wahrgenommen. Ausländische Facharbeiter fragten sich etwa, ob es nicht besser sei, die Bundesrepublik zu meiden und stattdessen nach Großbritannien, Kanada oder in die USA zu gehen. Trotz der Enttäuschung über die bisherige Diskussion über das Sarrazin-Buch, besitzen die Beiträge einen positiven, ja kämpferischen Ton: „Deutschland erfindet sich neu“ lautet der Untertitel, der für das „Manifest der Vielen“ gewählt wurde.
Diese Aussage steht für ein im Grunde bereits erreichtes Ziel: „Wir leben heute schon in der Welt von morgen.“ Deutschland sei faktisch schon seit Längerem ein Einwanderungsland und die Immigration eine Notwendigkeit – so wenn man den Sozialstaat mit seinem bisherigen Rentensystem erhalten wolle. Nur müsse auch die Politik die Realität akzeptieren und kommunizieren. Ein Vorbild sei hier Bundespräsident Wulff, der mit dem Ausspruch, dass der Islam zu Deutschland gehöre, das entscheidende Signal (nicht nur) an die Muslime gesandt habe.
Das „Manifest der Vielen“ ist, wie es in der Inhaltsangabe richtig heißt, ein „Gegengift“ zur Sarrazin-Debatte und -Lektüre. Die Sammlung steht mit ihren Autoren für eine Vielstimmigkeit, die auch für die Zukunft der hiesigen Gesellschaft als eine alltägliche und dauerhafte zu wünschen ist. Trotz aller Skepsis gegenüber den Medien und der Politik, die den „Willen des Volkes“ wiederholt auf populistische Weise für eigene Interessen einspannten, überwiegt die Hoffnung auf eine intensivere Beteiligung der Migranten an der künftigen Gestaltung dieses Landes.
Dass die Integrationsarbeit auch künftig eine Herausforderung und weder ein einseitiger noch ein an Reibungen freier Prozess sein werde, schreiben auch die Mitwirkenden des „Manifests der Vielen“. Doch machen sie zugleich deutlich, wie viel Gewinn die Bundesrepublik daraus erzielen könnte, wenn sie nur die oft als Bedrohung empfundene Multikulturalität und -religiosität umdeutete und darin eine Chance und Bereicherung sähe. Damit könnte sie schließlich den Beweis erbringen, dass sie als eine weltoffene, tolerante und den vielen Krisen der Zeit trotzende Gesellschaft für die Anforderungen der Globalisierung gewappnet ist.