Es ist eine Geschichte, so alt wie die Welt; im imperativen Rat des Studiobosses an den Drehbuchschreiber in Hollywood heißt sie „Boy meets girl“. Hier freilich wird sie umgedreht: „Girl meets boys“ – es sind nämlich mehrere: Der erste vergewaltigt das Mädchen Alma in Sao Paulo, als es sich aus seiner gutbürgerlichen Existenz in eine „favela“ wagt.
Der zweite ist einer von den Aborigines, die als Ureinwohner Australiens dahinvegetieren und ihre alten, aus unvordenklichen Zeiten überkommenen Riten meist nur noch als Fremdenattraktion vorführen, ehe man sie auch aus den letzten Reservaten vertreiben wird, weil man dort, in der Wüste, Uran vermutet oder andere seltene Metalle. Er, der schwarze Mann ohne Namen (aber mit einer Profession: er ist Maler, ein bisschen Chic muss sein) heilt ihre Verletzung. Mit ihm erlebt Alma so etwas wie eine Levitation, in der Sex und Urzauber zusammenfallen – für eine Woche.
Der dritte, das ist ein holländischer Literaturkritiker, der sich in Igls mit schrumpligen Brötchen, Leinöl und Massagen den Darm säubern und um ein paar Pfunde erleichtern lässt. Mit ihm teilt sie fast nichts. Es kommt nicht dazu.
Ein Minimum an Handlung, wenn man so will, aber verteilt auf drei Kontinente, über mehr als drei Jahre. Nach dem großen, traurigen Abschiedsroman von Berlin – mit Abschieden hat es der Autor seit je –, der passend „Allerseelen“ heißt, ist Cees Nooteboom zurückgekehrt zu jenen kurzen Büchern, die seinen Ruhm begründeten, jenen nicht ganz geheuren Geschichten, die Irrationales mit so viel Rationalität wie möglich erzählen.
Das erste dieser Bücher, vor mehr als fünfzig Jahren geschrieben, heißt „Philip und die anderen“, aber es hatte in der ersten deutschen Ausgabe einen anderen Titel: „Das Paradies ist nebenan“. An den wird Nooteboom auch gedacht haben bei seinem aktuellen Buch „Paradies verloren“ und natürlich an „Paradise lost“, John Miltons gewaltiges Versepos über Adam und Eva und die Folgen verbotenen Apfelgenusses, das außerhalb Englands kaum einer mehr liest, außer ihm natürlich, dem gelehrten Autor. Wandelt doch auch er „auf ungewisser Bahn durch Eden hin“, das Paradies, das es nicht mehr gibt. Also musste er sich in einem unendlichen „road movie“ auf die Suche machen, also treibt es ihn seit Jahrzehnten durch die Welt; die Orte, an denen er nicht war, müssten sich zählen lassen.
Alteuropäische Skepsis
Und natürlich war er in Australien, in Perth bei einem Literaturfestival und dann für Wochen in der Wüste des Hinterlandes, wo es Felszeichnungen der Aborigines gibt, schöner als die in den Höhlen von Lascaux. Und in Igls war er gewiss auch, in Sao Paulo sowieso. Überall hat er sich Notizen gemacht, festgehalten, was ihm unter die Augen kam, Offensichtliches und von anderen weniger aufmerksamen Reisenden Übersehenes.
Aus den disparaten Fundstücken fügt sich dann eine Geschichte in einem unverwechselbaren Ton, in dem romantische Träumerei, ironische Wachheit, alteuropäische Skepsis mit den gelegentlich harschen Obertönen treffender Satire und entschiedener Kritik zusammenklingen, was ja alles so weit nicht auseinander liegt, wenn man an Schlegel denkt oder Tieck. Alles ist freilich holländisch gefärbt: also Multatuli und Hermans.
Das „lieto fine“ der Oper verweigert er oder setzt es in Anführungszeichen: so ist die Welt halt nicht. Und Engel gibt es nur auf Bildern, von Botticelli etwa und Giotto di Bordone, oder eben als Statisten einer Performance in eben jenem Perth, wo sie stumm und regungslos an den unmöglichsten Orten postiert sind - auf einem Dachboden, in einer Direktionsetage, in einem verlassenen Winkel - und darauf warten, dass sie ein tasmanischer Dichter, ein holländischer Kritiker oder sonst ein Neugieriger entdecken und sich verwundern wird oder auch nicht.
Engelhaftes Herumziehen
Erik Zondag, der mit seinem Beruf und seinem Leben gleich unzufriedene Kritiker, entdeckt den Engel Alma im Schrank und verliebt sich Hals über Kopf in sie (obwohl doch Engel kein Geschlecht haben oder allenfalls ein männliches). Aber ehe etwas daraus werden kann, trennen sich ihre Wege. In Igls, wo er Alma drei Jahre später wieder trifft, wird auch nichts daraus. Die Masseurin (dass sie es ist, erfahren wir im ersten Teil der Geschichte von ihr selbst, von Zondag wird dann in der dritten Person berichtet), die sich ihr engelhaftes Herumziehen durch die Welt mit ihrer Hände Arbeit verdient, wird nicht sesshaft werden.
Aber das ist schon zu viel verraten: es sagt vor allem nichts über die vielen einlässlichen, schönen Beobachtungen, die der geübte Hinseher auch hier wieder notiert, nichts über die beiläufige Hinrichtung eines holländischen Kritikers, den in Nootebooms Heimatland jeder kennt (nicht Zondag, ein anderer), nichts über die ätzende Satire auf den reisenden Literaturbetrieb, dem er sich selbst kaum je verweigert, wenn man ihn dazu einlädt, und nichts über die schreiend komische Beschreibung des Lebens im Abmagerungsinstitut, das alle Versuche, mit Gewalt gesünder zu werden, auf die Schippe nimmt.
Nootebooms erzählende Bücher – also auch dieser kleine Roman – begnügen sich nie mit der bloßen Geschichte, sie erklären ein Stück Welt, verwandeln es in Worte, in Literatur. So wie in diesem Divertimento aus dem verlorenen Paradies. Man muss sich nur darauf einlassen. Dann steigen vielleicht die Engel aus den Bildern.
Mehr: Die Suche nach dem Engel (Kurzmeldung)
Literaturangaben:
NOOTEBOOM, CEES: Paradies verloren. Roman. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2005. 158 S., 16,90 €.