MÜNCHEN (BLK) –Im April 2010 ist Joseph Stiglitz’ Buch „Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft“ im Siedler Verlag erschienen.
Klappentext: Der freie Fall der Weltwirtschaft begann im Herbst 2008 mit dem Zusammenbruch der Investment-Bank Lehman Brothers. Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die wir seither erleben, ist die schlimmste seit den 1930er Jahren. In seinem neuen Buch fragt Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, wie es dazu kommen konnte – und erklärt, wie wir solche Katastrophen in Zukunft verhindern können. Mit der Wirtschaftskrise hat sich die jahrzehntelang herrschende Wirtschaftsdoktrin selbst entzaubert: Falsche Anreize, entfesselte Märkte und eine ungerechte Verteilung des Reichtums haben die Welt an den Rand des Abgrunds geführt. Für Joseph Stiglitz ist klar: Ein „Weiter so“ kann es nicht geben. Statt mit hektischen Rettungsmaßnahmen die eigene, nationale Wirtschaft zu retten und danach wieder zur Tagesordnung überzugehen, müssen wir diesen kritischen Moment nutzen, um eine neue globale Wirtschafts- und Finanzpolitik zu schaffen.
Joseph Stiglitz, 1943 in den USA geboren, war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford, bevor er 1993 zu einem Wirtschaftsberater der Clinton-Regierung wurde. Anschließend ging er als Chefvolkswirt zur Weltbank. 2001 wurde er mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet. Stiglitz lehrt heute an der Columbia University in New York. Bei Siedler erschien der Bestseller „Die Schatten der Globalisierung“ (2002) und das viel diskutierte Buch „Die Roaring Nineties“ (2004). Zuletzt erschien „Die Chancen der Globalisierung“ (2006).
Leseprobe:
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In der Großen Rezession, die im Jahr 2008 begann, verloren Millionen von Menschen auf der ganzen Welt ihre Häuser und Arbeitsplätze. Nochviel mehr waren in Angst und Sorge, dass ihnen das Gleiche widerfahren könnte, und fast jeder, der für seinen Lebensabend oder für die Ausbildung seiner Kinder Geld zurückgelegt hatte, musste erleben, dass der Wert dieser Ersparnisse auf einen Bruchteil ihres früheren Wertes schrumpfte. Eine Krise, die in Amerika begann, breitete sich binnen Kurzem auf die ganze Welt aus – allein in China gingen 20 Millionen Arbeitsplätze verloren, und viele Millionen Menschen verarmten.
Damit hatte niemand gerechnet. Die moderne Volkswirtschaftslehre mit ihrem Glauben an freie Märkte und an die Globalisierung hatte Wohlstand für alle versprochen. Die hochgerühmte New Economy – die erstaunlichen Innovationen, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichneten, darunter auch Deregulierung und Finanzierungstechnik – sollte ein besseres Risikomanagement ermöglichen und dadurch den konjunkturellen Schwankungen ein Ende setzen. Und wenn die Verbindung von New Economy und moderner Ökonomik das konjunkturelle Auf und Ab auch nicht abgeschafft habe, so habe sie es doch zumindest abgeschwächt. So erzählte man es uns jedenfalls. Die Große Rezession – eindeutig der schlimmste Abschwung seit der Großen Depression vor 75 Jahren – hat diese Illusionen zerstört. Sie zwingt uns dazu, liebgewonnene Ansichten zu überdenken. Ein Vierteljahrhundert lang waren bestimmte marktwirtschaftliche Doktrinen tonangebend: Freie und unbeschränkte Märkte seien effizient; wenn sie Fehler machten, würden sie diese schnell korrigieren. Der Staat müsse sich auf die notwendigen Aufgaben beschränken, und Regulierung hemme die Innovationskraft einer Volkswirtschaft. Zentralbanken sollten unabhängig sein und sich darauf konzentrieren, die Inflationsrate möglichst niedrig zu halten. Mittlerweile hat selbst der Hohepriester die ser Ideologie, Alan Greenspan, der in dem Zeitraum, in dem diese Anschauungen maßgeblich waren, als Präsident der US-Notenbank amtierte, eingeräumt, dass dieser Ansatz verfehlt war – doch für die Vielen, die in der Folge zu den Leidtragenden gehörten, kam sein Eingeständnis zu spät.
Dieses Buch befasst sich mit einem Kampf der Ideen, mit den Vorstellungen, die zu den verfehlten politischen Maßnahmen führten, die die Krise auslösten, und mit den Lehren, die wir daraus ziehen. Mit der Zeit endet jede Krise. Aber jede Krise – zumal eine Krise dieses Ausmaßes – wirkt nach. Und die Krise von 2008 wird eine neue Sicht der langjährigen Kontroversen um die Frage, welches Wirtschaftssystem dem Gemeinwohl am dienlichsten ist, mit sich bringen. Der Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus mag vorbei sein, aber es gibt unterschiedliche Spielarten der Marktwirtschaft, und der Wettbewerb zwischen ihnen geht weiter. Ich glaube, dass Märkte im Zentrum jeder erfolgreichen Volkswirtschaft stehen, dass sie aus eigener Kraft aber nicht richtig funktionieren. Damit stehe ich in der Tradition des berühmten britischen Ökonomen John Maynard Keynes, der die moderne Volkswirtschaftslehre maßgeblich geprägt hat. Der Staat muss eine Rolle spielen, nicht nur, um die Wirtschaft zu retten, wenn Märkte versagen, und bei der Regulierung der Märkte, um jene Arten des Versagens, wie wir sie gerade erleben, zu verhindern. Volkswirtschaften brauchen ein Gleichgewicht zwischen Markt und Staat – mit wichtigen Beiträgen von nicht-marktgestützten und nichtstaatlichen Institutionen. In den letzten 25 Jahren hat Amerika dieses Gleichgewicht verloren, und es hat seine unausgewogenen Konzepte vielen anderen Ländern aufgezwungen.
Dieses Buch erläutert, wie verfehlte Betrachtungsweisen zu der Krise führten, wie sie es wichtigen Entscheidungsträgern im privaten und im öffentlichen Sektor erschwerten, die schwelenden Probleme zu erkennen, und wie sie zum Versagen der Politiker bei der Bewältigung der negativen Folgen der Krise beitrugen. Wie lange die Krise währt, wird davon abhängen, welche politischen Maßnahmen ergriffen werden. Aufgrund bereits begangener Fehler wird der Abschwung länger dauern und tiefer sein, als er es andernfalls gewesen wäre. Aber die Bewältigung der Krise ist nur eines der Themen, die mich interessieren; ich bin auch besorgt darüber, wie die Welt nach dem Ende dieser Krise aussehen wird. Wir werden und können nicht zu der Welt, wie sie vor der Krise gewesen ist, zurückkehren. Vor der Krise waren die Vereinigten Staaten und die Welt insgesamt mit vielen Problemen konfrontiert; nicht das Geringste dieser Probleme ist der Klimawandel. Das Tempo der Globalisierung erzwang einen raschen Strukturwandel in den Volkswirtschaften und erhöhte vielfach deren Anpassungsfähigkeit. Diese Herausforderungen werden, in verstärkter Form, nach der Krise fortbestehen, aber uns werden erheblich weniger Ressourcen zu ihrer Bewältigung zur Verfügung stehen.
Ich hoffe, dass die Krise zu Veränderungen im Bereich der Politik und im Bereich des Denkens führen wird. Wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen – nicht nur die in politischer oder gesellschaftlicher Hinsicht zweckdienlichen –, werden wir eine weitere Krise nicht nur unwahrscheinlicher machen, sondern vielleicht sogar jene wirklichen Innovationen beschleunigen, die das Leben von Menschen auf der ganzen Welt verbessern werden. Wenn wir hingegen die falschen Entscheidungen treffen, werden die sozialen Verwerfungen zunehmen, und die Wirtschaft wird anfälliger für eine weitere Krise sein und schlechter gewappnet für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Dieses Buch soll dazu beitragen, die Weltordnung, die sich nach der Krise herausbilden wird, besser zu verstehen, und aufzeigen, wie unser heutiges Verhalten die Weltordnung positiv oder negativ beeinflussen wird. Man hätte erwarten können, dass sich mit der Krise von 2008 die Debatte über den „Marktfundamentalismus“ – die Überzeugung, dass freie Märkte von selbst wirtschaftlichen Wohlstand und Wirtschaftswachstum hervorbringen – erledigt hätte. Man hätte meinen können, niemand würde mehr behaupten – zumindest so lange nicht, bis die Erinnerungen an diese Krise tief ins historische Gedächtnis abgesunken sind –, dass sich Märkte von selbst regulieren und dass das eigennützige Verhalten der Marktteilnehmer die Funktionstüchtigkeit der Märkte garantiere
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Literaturangabe:
STIGLITZ, JOSEPH: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Siedler Verlag, München 2010. 448 S., 24,95 €.
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