FELLINGER, RAIMUND (Hrsg.): Siegfried Unseld: Chronik 1970. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 422 S., 39, 90 €.
Von Roland H. Wiegenstein
Siegfried Unseld (1924-2002) gilt als wichtigster deutscher Verleger einer Epoche – der vom Kriegsende bis in seine letzten Lebenstage reichenden, als zuerst die Bundesrepublik und später das wieder vereinte Deutschland aus dem Paria der europäischen Völkergemeinschaft zum tonangebenden Mitspieler wurde, sein Verlag, den er von Peter Suhrkamp übernommen hatte, hat an dieser Entwicklung einen erheblichen Anteil. Was er übernahm war ein feiner, kulturbeflissener Verlag, der mit einigen wichtigen Autoren wie Brecht und Hesse eine angesehene Rolle auf dem Büchermarkt spielte. Der Verlag, den Unseld bei seinem Tode hinterließ, ist ein Konzern von beeindruckender Größe, ohne dass er doch im Geringsten seinen geistigen Anspruch, seine „Macht“ verloren hätte. Das Wort von der „Suhrkamp-Kultur“, das viel zitiert die Runde machte, hat seine Wahrheit nicht verloren. Das ist Unselds Verdienst.
Wie sich das entwickelte, das versucht der Verlag auch dadurch zu dokumentieren, dass er schon zu Unselds Lebzeiten begann, die Briefe des Verlegers an seine Autoren zu publizieren, die seinen engen Kontakt etwa zu Thomas Bernhard, Max Frisch, Uwe Johnson und noch einigen anderen zu dokumentieren, sein eigenes Diktum, er verlege nicht Bücher, sondern Autoren. In der Tat sind diese Bände eine erstaunliche Lektüre – sie zeigen, was Unseld antrieb, wie er seine Autoren ermunterte, zurechtwies, lobte, umschmeichelte, aber auch förderte, ihnen half und sie auch finanziell so alimentierte, dass am Ende, nach in Kauf genommenen Durststrecken, die Bilanzen stimmten, auch wenn er Wagnisse einging.
Nun beginnt der Verlag seine „Chroniken“ zu veröffentlichen, schnell, meist täglich diktierte Tätigkeitsberichte, die er den Verlagsmitarbeitern, vor allem dem Lektorat zugänglich machte, die aber offensichtlich auch der Selbstvergewisserung dienten. Der Herausgeber Raimund Fellinger hat in einem Nachwort zum ersten Band dieser „Chronik“, der für das Jahr 1970, die Funktionen dieser Chronik einleuchtend beschrieben. „Sie dokumentieren Entscheidungen; sie beschreiben Lebens- und Arbeitssituationen von Autoren, Übersetzern, und Herausgebern;… sie berichten von Theateraufführungen, Lesungen und Vorträgen in Buchhandlungen und anderen öffentlichen Veranstaltungen;… sie stellen Aktivitäten und Äußerungen des Verlegers zu allgemeinen wie besonderen Themen dar; … Sie geben Urteile über den Verleger, die Verlagsarbeit und die Verlagsmitarbeiter wieder…“ Fellinger meint freilich auch: „Sie erheben nicht den Anspruch auf ausschließliche Wahrheit.“
In der Tat sind Unselds Aufzeichnungen und Diktate überzeugend subjektiv. Sie zeigen, was ihm mit dem Suhrkamp Verlag vorschwebte, welche immense, unermüdliche Arbeit das verlangte, welche Detailbesessenheit und welchen Einfallsreichtum! Er kreierte neue „Reihen“ (und ließ sie fallen, wenn sie die Bedürfnisse des Marktes nicht mehr erfüllten), er beharrte, konservativ wie ein Hausvater auf dem Bewährten und riskierte doch Neuerungen.
Dies wird nirgendwo deutlicher als im ersten Teil der „Chronik“, die in aller Ausführlichkeit die „cause celèbre“ der Jahre 1967/68 wiedergibt: den „Aufstand“ der Lektoren gegen den übermächtigen Verleger, den er mit einer glänzenden strategischen Leistung abwetterte, einen Aufstand, der, hätte er denn Erfolg gehabt, den Verlag zerstört hätte. Dabei waren ja unter den Insurgenten einige der besten Köpfe in der literarischen Landschaft Deutschlands. Angesteckt vom Geist der „Achtundsechziger“ suchten sie eine „Verfassung“, die auf eine „Sozialisierung“ hinausgelaufen wäre. Unseld brachte sofort gegen seine Angestellten „seine“ Autoren in Stellung: von Frisch bis Bloch, Habermas und Adorno bis zum dem jüngeren Jürgen Becker. Er offerierte den Klügsten der Rebellen, ihnen das Geld zur Gründung eines eigenen „sozialistischen“ Verlags aus seiner Tasche zu geben (Geld, das er gar nicht hatte) und er machte seinen Frieden mit den Aufständischen, die fast alle auf verschiedene Weise dem Verlag verbunden blieben, nachdem die „Machtfrage“ geklärt war.
Dies ist ein Lehrstück über die Situation von Verlagen in Zeiten, als eine überwiegend „linke“ Verlagskultur (die sie blieb!) auch organisatorische Ansprüche stellte, sich als Insel des richtigen Lebens im falschen in einer kapitalistischen Welt verstand. Heute wissen wir, dass diese Utopie keine Chance hatte. Unselds unvergleichliche Mischung aus Wohlwollen und Härte, aus Trickreichtum und echter Besorgnis siegte am Ende – die Zeiten waren nicht so. Aber es gab seitdem doch eine institutionalisierte Lektorenversammlung und es gab die „Chroniken“, in denen der Verleger die Mitarbeiter ausführlich informierte – und sich dabei sogar zurücknahm.
Sie ergeben das Bild eines vermutlich nicht immer leicht zu nehmenden benevolenten Chefs, der Schwierigkeiten, auch mit seinem Schweizer Finanziers (und Miteigentümern des Verlags) elegant und zielstrebig ausräumte, der sich Anregungen holte, wo er sie bekommen konnte, der weite Reisen unternahm und immer etwas mitbrachte, der auf seinen Reisen stets auch Buchhandlungen besuchte und sich von den Sortimentern Anregungen geben ließ, einen, der auch mit den Depressionen seiner Autoren großzügig umging (etwa mit Wolfgang Koeppens „Schreibblock“ und dem Uwe Johnsons, dem er den größeren Teil der „Jahrestage“ buchstäblich abrang) und der ihre Manuskripte las (selbst als der Verlag inzwischen Hunderte von Büchern herausbrachte), der mit den wichtigen Autoren seines Hauses vertrauten, freundschaftlichen Umgang pflegte – er liebte die Literatur und die, die sie schrieben.
Er mochte noch so peinlich darauf achten, dass die Bilanzen nicht aus dem Ruder liefen, sie waren nur ökonomischer Ausdruck seines Willens, einen, ja den bestimmenden Verlag seiner Zeit weiterzubringen.
Die „Chronik 1970“ ist das Zeugnis eines leidenschaftlichen Büchermachers, der nicht seinesgleichen hatte.