Von Carla S. Reissman
NEW YORK (BLK) — „Die kleine Raupe Nimmersatt“ ist gerade 40 Jahre alt geworden — ihr Schöpfer ist schon doppelt so alt. Der Deutsch-Amerikaner Eric Carle feiert am kommenden Donnerstag (25. Juni) seinen 80. Geburtstag. Seit Jahrzehnten ist der Amerikaner mit deutschem Familienstammbaum mit seinen wunderschönen Bilderbüchern erfolgreich. Das von ihm gegründete Museum für Kinderbuch-Kunst in Amherst (US-Bundesstaat Massachussetts) widmet ihm deshalb noch bis Ende August eine große Ausstellung mit den Original-Collagen.
Warum die bezaubernde Geschichte von der gefräßigen Raupe, die sich durch Äpfel, Pflaumen, Wurst, Käse und einen Lollipop frisst, erfolgreich wurde, hat Carle einmal so erklärt: „Ich denke, darin steckt eine Hoffnungsbotschaft: Ich kann auch groß werden. Ich kann meine Flügel, meine Talente, auch ausbreiten und in die Welt fliegen.“ Das Bilderbuch entstand 1969, wurde in 45 Sprachen übersetzt und weltweit 29 Millionen Mal verkauft, davon alleine 5 Millionen Mal in Deutschland.
Der spätere „Großmeister der Kleinkindliteratur“ (FAZ) wurde 1929 in Syracuse, im Staat New York, geboren. Dorthin waren seine deutschen Eltern Johanna und Erich Carle in den 20er Jahren ausgewandert. Als er sechs Jahre alt war, kehrte die Familie nach Deutschland zurück. In der geistigen Enge der Nazizeit verbrachte Carle Kindheit und Jugend in Stuttgart. An Wochenenden weckte sein Vater in ihm während langer Morgenspaziergänge das Interesse an den Wundern der Natur. „Er nahm mich bei der Hand und erzählte mir wie Ameisen, Bienen und Raupen leben und wie sich Fische und Frösche entwickeln. Das hat mich zutiefst beeinflusst“, sagte Carle einmal in einem Interview. Und sein fast noch einwandfreies Deutsch hat einen unverkennbar schwäbischen Einschlag.
Der Mann, der ihn allerdings künstlerisch am meisten beeinflusste, war Herr Kraus, sein Lehrer aus der Oberschule. Der zeigte ihm heimlich Bildbände mit avantgardistischer Kunst, die von den Nazis als „entartet“ verboten worden war. Herr Kraus riet ihm auch nach dem Krieg, Grafik bei Professor Ernst Schneidler an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart zu studieren.
Mit 22 Jahren und einem Abschluss als Grafiker kehrte Carle in die USA zurück, um dort seine eigenen Flügel auszubreiten. Seinen ersten Job gab ihm die „New York Times“. Dann traf er Bill Martin Jr., der einen Illustrator für seine Geschichte „Brauner Bär, Brauner Bär, was siehst du da?“ suchte. Carle hatte so viel Spaß an der Zusammenarbeit, dass er beschloss, selbst Kinderbücher zu schreiben.
Seine Collagetechnik hatte er noch in Stuttgart gelernt und seit 50 Jahren kaum verändert. Dafür bemalt oder betupft er Seidenpapier mit leuchtenden Farben, schneidet daraus Formen und setzt sie zu Figuren zusammen. Seine Bücher waren bereits „interaktiv“, als es den Begriff eigentlich noch gar nicht gab. Mit ausgestanzten Löchern, ausklappbaren Seiten und Reliefen zum Betasten werden seine Bände zu Spielbilderbüchern. Zu weiteren erfolgreichen Titeln gehören unter anderem „Die kleine Maus sucht einen Freund“ (1971), „Nur eine kleines Samenkorn“ (1984) und „Und heute ist Montag. Ein Bilderbuch vom Essen und Trinken“ (2000). Mehrmals war er für den Deutschen Jugendbuchpreis nominiert und erhielt 2001 das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.
Sein jüngstes Lieblingsprojekt ist das „Eric Carle Museum of Picture Books“, das erste Bilderbuchmuseum der USA. Zwei Drittel des 20 Millionen teuren Komplexes auf dem Land mit einer Bibliothek, einem Café und einem Studio finanzierte er selbst. „Ich hatte das Glück, erfolgreich zu sein“, sagt er bescheiden. Neben seinen eigenen Bildern sind dort auch Originale von Maurice Sendak, Leo Lionni oder William Steig zu sehen. Noch bis Ende August hängt dort alles voller selbstgestalteter Schmetterlinge: Eric Carle hat die Besucher eingeladen, ihre Flügel auszubreiten.