MÜNCHEN (BLK) – Im Siedler Verlag ist im April 2011 die Biografie der ehemaligen FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher unter dem Titel „Und dennoch... Nachdenken über Zeitgeschichte, Erinnern für die Zukunft. herausgekommen
Klappentext: Hildegard Hamm-Brücher, die Grande Dame der deutschen Politik, blickt auf die Zeit seit dem Ende der Nazi-Diktatur zurück und wirbt eindringlich für ihre großen Lebensthemen – das Lernen aus den Irrtümern der Geschichte, die Stärkung der Demokratie und die Verteidigung der Freiheit.
Hildegard Hamm-Brücher ist eine der bedeutendsten Frauen der deutschen Politik seit 1945. Die langjährige Abgeordnete, Staatsministerin und Präsidentschaftskandidatin mischte sich auch nach dem Ausscheiden aus ihren Ämtern immer wieder vernehmbar in gesellschaftliche und politische Debatten ein. Für ihr Engagement, vor allem in Demokratie- und Bildungsfragen, wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Die in München lebende Politikerin hat zahlreiche Bücher geschrieben und herausgegeben. Im Mai 2011 feiert sie ihren neunzigsten Geburtstag.
Leseprobe:
©Siedler Verlag©
Vorwort
Am Ende meines neunten Lebensjahrzehnts möchte ich noch einmal zurückblicken. Nicht in Form einer Autobiographie oder einer Beschreibung von historischen Abläufen, sondern als politische Zeugin meiner Lebenszeit seit 1945. Es ist eine lange Wegstrecke, in der ich die Ereignisse und Prozesse in Deutschland seit der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur als Beteiligte miterlebt habe, also ein Zeitraum von über fünfundsechzig Jahren. Er beginnt mit dem Ende des Krieges und der Teilung Deutschlands in vier Zonen und endet mit der Wiedervereinigung und der vollständigen Souveränität. Entscheidend war für mich, zu erleben, wie unsere Demokratie, die zunächst von den westlichen Siegermächten angeordnet, mit steigendem Wohlstand jedoch akzeptiert, zu guter Letzt angenommen wurde und aus eigenen Kräften Gestalt annahm. Von Anfang an nahm ich daran aktiv und engagiert teil, eine brave Mitläuferin war ich nie. Nun möchte ich auf diese Stationen noch einmal zurückblicken. Es ist also eine Art Spätlese.
Dafür habe ich mehrere Gründe. So habe ich in der Nach-Hitler-Zeit Erfahrungen gesammelt, die meiner Meinung nach für die politische Bewusstseinsbildung kommender Generationen wissenswert sind. Es sind Erfahrungen über unsere Demokratiewerdung auf den Trümmern der Nazi-Diktatur, über die langwierige und schwierige Abkehr von Obrigkeitsstaat und traditioneller Untertanengesinnung. Dies schließt auch die Auseinandersetzung mit der Hitler-Diktatur ein, die mit einer überwiegend missglückten Entnazifizierung sowie einer verzögerten, teilweise unzulänglichen Wiedergutmachung der Opfer des nationalsozialistischen Terrors verbunden ist. Aus eigenem Erleben schildere ich die Ursachen für Versäumnisse und Verspätungen bei überfälligen Reformen, insbesondere in der Bildungs- und Gesellschaftspolitik, und als ehemaliges FDP-Mitglied habe ich etliche Stationen des Glanzes und Elends des politischen Liberalismus miterlebt. Auch beschäftigten und beschäftigen mich noch immer die Probleme anlässlich der Wiedervereinigung des vierzig Jahre geteilten deutschen Staates; und nicht zuletzt kann ich auch auf sechs Jahrzehnte Politik als Frauenberuf zurückblicken, in denen sich in jeder Hinsicht viel getan hat.
All das sind Erfahrungen und Entwicklungen, die ich gegen Geschichtsvergessenheit, ja Geschichtslosigkeit setzen möchte. Diese, unsere Geschichtsvergessenheit halte ich nicht nur bei nachwachsenden, sondern auch bei in Verantwortung stehenden Generationen für besorgniserregend: Immer mehr Deutsche wissen immer weniger von historischen Geschehnissen der jüngsten Vergangenheit, weshalb es ihnen auch nicht möglich ist, zu beurteilen, wie diese im gegenwärtigen und künftigen politischen Geschehen weiterwirken. Besonders ist das der Fall, wenn es die dunkelsten Kapitel unserer Vergangenheit betrifft, die oftmals unterschwellig fortwirken. Diese Geschichtsvergessenheit wird wahrscheinlich dann weiter zunehmen, wenn die letzten Zeugen der Nazizeit gestorben sind und ihre mahnende Erinnerung verstummt.
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Meine zeitgeschichtliche Rückschau will dagegenhalten. Sie erfolgt als pragmatisch-politische Berichterstattung, nicht als wissenschaftliche Aufarbeitung, und ist nur dann biographisch, wenn es zur Thematik gehört. Sie soll informieren und aufklären, aber auch Wertungen einer freischaffenden liberalen Politikerin anbieten.
Damit möchte ich Interesse für die Vorgeschichte von aktuellen politischen Zusammenhängen wecken, wenn es etwa um das Wiederaufleben von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus geht. Ein weiteres Thema ist die aktuell grassierende Politik(er)- und Demokratieverdrossenheit, die eine erschreckende Entfremdung zwischen Gesellschaft und demokratischen Institutionen zur Folge hat. Gemeint sind damit Parteien und Parlamente. Diese Verdrossenheit ist nicht „vom Himmel gefallen“, sondern Ergebnis einer traditionellen Abneigung der Deutschen gegen Parteien und demokratische Prozesse, die neuerlich wieder stärker aufgebrochen ist. Nur wenn man diese bedenkliche Entwicklung und ihre Wurzeln erkennt, kann sie überwunden werden. Das gilt ebenso für das notwendige Fingerspitzengefühl in internationalen Beziehungen. Ich greife hier den Nahost-Konflikt als Beispiel heraus: Um zu verstehen, weshalb die Erinnerungen an den Holocaust und die Nazi-Verbrechen in der westlichen Welt weiterschwelen und gelegentlich von Neuem aufbrechen, ist es erforderlich, diese Zusammenhänge zu kennen.
Zudem möchte ich mit meinen Berichten aber auch einen Beitrag für die Zukunft einer Erinnerungskultur leisten. Es genügt nicht, Gedenkstätten zu errichten oder Gedenktage zu zelebrieren, damit die einstigen Katastrophen nicht vergessen werden. Mein Wunsch ist es, dass kommende Generationen sich unseres wechselvollen zeitgeschichtlichen Erbes bewusst werden – und zwar bevor es verblasst und es zu Rückfällen kommen kann. Dafür ist es wichtig, die Irrwege und Irrtümer unserer Vergangenheit zu kennen, so wie es der deutsch-jüdische Kulturphilosoph Karl Popper auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte formuliert hat: Der Sinn bestünde darin, aus ihren Irrtümern dauerhaft zu lernen. Meiner Meinung nach sind Politik und Geschichte nicht voneinander zu trennen: Politik bedarf immer auch geschichtlicher Bezüge, und Geschichte ist zugleich das Ergebnis von Politik – und somit verpflichtender Lernstoff.
Gelingen kann dies jedoch nur, wenn man die entsprechenden Fehler kennt und benennt, und auch dazu möchte ich mit meinen Berichten ein Scherflein beitragen. Nicht weil ich ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein hätte oder auf politischer Besserwisserei bestehe, sondern weil für mich das „Dennoch-Sagen“ – im Sinne Max Webers – trotz aller Aufs und Abs im eigenen Lebenslauf als Prüfstein für Politik als Lebensberuf unverzichtbar ist.
Schließlich möchte ich, gemäß meiner persönlichen Befindlichkeit, noch einen weiteren Grund für meine Erfahrungsberichte hinzufügen: Viel zu lange war Politik ausschließlich Sache von Männern, auch war es ihr Privileg, sie zu deuten. Da nun aber zum Glück Frauen begonnen haben, sich politisch einzumischen, ist auch die Interpretation ihrer Sichtweise unverzichtbar geworden. Auch dazu möchte ich beitragen, dass künftig nicht nur Männer, sondern auch Frauen ihre zeitgeschichtlichen Erfahrungen, selbst wenn sie kritischer Art sind, aufarbeiten.
Insgesamt war ich achtunddreißig Jahre Volksvertreterin mit einem Mandat, das ich erstmals 1948, als Stadtratskandidatin der Münchner FDP, errungen habe: Davon war ich zweiundzwanzig Jahre Abgeordnete im Bayerischen Landtag, vierzehn Jahre im Deutschen Bundestag, elf Jahre Mitglied von Regierungen, davon fünf Jahre Staatssekretärin für Bildung und Wissenschaft in Hessen und Bonn und sechs Jahre Staatsministerin im Auswärtigen Amt. Dies ist meine Legitimation für die Behauptung, dass ich unsere repräsentative Demokratie „von der Pike auf“ kennengelernt habe und über ihren Ist-Zustand Rechenschaft abzulegen vermag. Dazu sollen auch die im Anhang beigefügten vier Texte beitragen, die ich aus ungezählten ausgewählt habe, weil sie wichtige Stationen in meiner politischen Lebensbilanz belegen.
Dabei bin ich mir bewusst, dass gerade ein neues politisches, technologisches und demographisches Zeitalter anbricht, das uns und unsere Demokratien im Westen und vor allem in Europa vor neue Herausforderungen und Bewährungsproben stellt.
©Siedler Verlag©
Literaturangabe:
HAMM-BRÜCHER, HILDEGARD: Und dennoch...Nachdenken über Zeitgeschichte, Erinnern für die Zukunft. Siedler Verlag, München 2011. 176 S., 18,99 €.
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