Von Rudolf Grimm
Ernst-Wilhelm Bohle gehörte zwar nicht zur obersten Ebene der NS-Hierarchie, doch machten ihn seine Herkunft und sein Habitus zu einer ungewöhnlichen Erscheinung. Das zeigt jetzt die von Frank-Rutger Hausmann vorgelegte erste Biographie über den Leiter der Auslandsorganisation der NSDAP (1933-1945) und Staatssekretär im Auswärtigen Amt (1937-1941). Der Autor, der sich seit vielen Jahren mit den deutsch-ausländischen Beziehungen in der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt, verdeutlicht damit auch, dass die bisherige Geschichtsforschung, die sich Bohle nur am Rande widmete, seiner Persönlichkeit im damaligen Umfeld nicht gerecht geworden ist.
Der 1903 in England geborene Sohn deutscher Eltern wuchs in Südafrika auf, sprach Englisch so gut wie Deutsch und besaß, wie die Eltern, auch die britische Staatsbürgerschaft. Er gab sie erst 1937 auf ausdrücklichen Wunsch Adolf Hitlers auf.
Wie andere im Ausland aufgewachsene Deutsche seiner Zeit war er ein typischer Vertreter des nationalkonservativen Deutschtums. Sein deutscher Patriotismus schliff sich in der fremden Umgebung nicht ab, sondern blieb ausgeprägt. Doch machte ihn die britische Erziehung in Kapstadt, wie Hausmann konstatiert, geschmeidiger als die Mehrzahl der Landsleute in Deutschland. Sie stattete ihn mit einem Gefühl für Fairness und einem Sinn für Pragmatismus aus, der Kontakt mit drei Kulturen, der deutschen, der britischen und der südafrikanischen, mit Weltläufigkeit.
Unter den Gauleitern — er hatte diesen Rang im Kontext der Auslandsorganisation erhalten — wirkte er wie ein Paradiesvogel. Er unterschied sich im privaten und und offiziellen Umgang durch Liberalismus und Großzügigkeit vom üblichen Profil der Mehrheit der führenden Nationalsozialisten. Hausmann verweist aber auch auf eine nicht zu unterschätzende nationalsozialistische Grundeinstellung und dass er viele Jahre lang „fanatisch“ hitlergläubig war.
In mancher Hinsicht charakterisiert es ihn, dass er ein besonders gutes Verhältnis zu Rudolf Heß hatte. Der „Stellvertreter des Führers“ war ebenfalls im Ausland geboren und aufgewachsen — in Alexandria (Ägypten). Er war 14 Jahre alt, als er nach Deutschland kam, Bohle 17. Gemeinsam hatten sie — neben manchen markanten Unterschieden im Wesen — auch, dass sie unter den wenigen NS-Führern waren, die sich nicht bereicherten und einem strikten Sitten- und Ehrenkodex anhingen.
Beide bekannten nach Kriegsende die volle Verantwortung für ihr Handeln. Bohle bereute darüber hinaus seinen Einsatz für den Nationalsozialismus. Heß lehnte das ab. Er wurde 1946 in Nürnberg vom alliierten Tribunal zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Bohle erhielt 1949 im Nürnberger Wilhelmstraßen-Prozeß eine fünfjährige Haftstrafe, von der er dann aber nur acht Monate abzusitzen brauchte, weil seine Untersuchungshaft seit 1945 stillschweigend auf sie angerechnet wurde.
Seine Englischkenntnisse halfen in einem mühsamen Neuanfang schließlich beim Aufbau einer Agentur für Wirtschaftswerbung in Hamburg. 1960 starb er nach einem Herzinfarkt im Alter von erst 57 Jahren. In der in- und ausländischen Presse gab es nur kurze Hinweise. Ausnahme war ein Nachruf des Nürnberger Anklägers Robert M.W. Kempner, eines emigrierten deutschen Juden, in identischer Form in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und dem Emigrantenblatt „Aufbau“ in New York.
Der an der Freien Universität Berlin lehrende Historiker Bernd Sösemann würdigte das Buch in einer Stellungnahme für die Deutsche Presse-Agentur als eine Darstellung, „die aus einer Vielzahl von privaten und amtlichen Dokumenten sowie vor dem Hintergrund einer tiefen Kenntnis der Forschungsliteratur gearbeitet ist. Die Biographie ist ebenso wie die vorangegangenen Werke der Autors zur NS-Diktatur übersichtlich gegliedert, detailliert dargestellt, aber dennoch straff in der Argumentation und gut geschrieben.“ Es entsteht nach dem Urteil des Geschäftsführenden Direktors des Friedrich-Meinecke-Instituts der Universität somit ein facettenreiches Porträt der Persönlichkeit Bohles. Ebenso ein perspektivenreiches Bild vom Aufbau des nationalsozialistischen Verwaltungsapparats und von den Organisationen im Ausland wie auch von den Machtkämpfen innerhalb der Führungsclique.
Literaturangabe:
HAUSMANN, FRANK-RUTGER: Ernst-Wilhelm Bohle. Gauleiter im Dienst von Partei und Staat. Duncker & Humblot, Berlin 2009. 299 S., 38 €.
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