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Im Treibhaus der Fantasie

„Wieder ein Jahr, abends am See“ - ein Buch, das im Laufe der Zeit verblasst

© Die Berliner Literaturkritik, 12.06.09

Wenn man sich mit der Frage beschäftigt, warum Menschen Erzählungen lesen, gibt es sicherlich zahlreiche Gründe, die auf ihre Weise plausibel erscheinen mögen. Ein vielleicht sehr modernes Bedürfnis besteht unweigerlich in der Fluchtmöglichkeit, die der Erzählrahmen eröffnet, indem er einen alternativen Daseinsraum zur oftmals faden Realität anbietet. Ein stiller Fantasieraum gegenüber einer dynamisch und geradezu häufig schrill erscheinenden Welt. Doch das ist kaum der Kern des Refugiums. Vielmehr sucht der heutige Leser nicht selten nach einem tieferen Sinn, welcher in Kurzgeschichten genretypisch nahezu konstitutiv ist. Immer mehr verlagert sich dabei die Sinnsuche von der Außenwelt in ein literarisch-kulturelles Interieur. Immer mehr wird die Weltentfremdung im sinnentleerten Zeitalter zur wahrhaften Weltkreation. Der Bruch erfolgt konkret dann, wenn das Außen unausweichlich in unseren prekären Innenraum einfällt.

Genau jene existenzielle Zäsur macht sich Silvio Huonder in seinem neuen Erzählband „Wieder ein Jahre, abends am See“ zueigen. Kaum ist der Mensch in seiner alltäglichen Daseinssphäre gezeigt, lässt er dessen Weltbild unkommentiert zerbrechen. Viele seiner Geschichten tragen fast schauerliche Züge, verweisen auf eine schicksalhafte Preisgebung des Individuums. So auch die Protagonistin einer seiner Short Storys, die in der latent bedrohlich anklingenden Geschichte „Bist du einsam heute Nacht?“ die fatale Observation durch einen unbekannten Stalker erleidet und nach dessen zunächst ersehnter Festnahme merkwürdigerweise eine undefinierte Zuneigung zu ihm verspürt. Wer der Mann ist, weiß, weiß sie nicht. Lediglich ein kurzer Blick bei der Festnahme sowie dessen Stimme, die ihr des Nachts den Elvis-Klassiker „are you lonesome tonight“ ins Telefon gesungen hat, ist ihr bekannt. Noch unbegreiflicher, dass sie, nachdem der Mann abgeführt worden ist, eben jenes bislang mit innerster Angst versehenen Lied erneut im CD-Spieler auflegt. Seine Geschichten sind so subtil wie beklemmend. Er inszeniert die Andeutung zum motivischen Sprachausdruck und wühlt den Leser gleichsam zunehmend auf. Huonders Erzählungen treiben zwischen stilistischer Leichtigkeit und kompositorischer Raffinesse.

Die Spannung steigert sich bis zum Höhepunkt, der aber im Grunde genommen nicht mehr als eine unbefriedigende Talfahrt ist, da die sinnstiftende Note ausbleibt. Denn zugegebenermaßen erfordert gerade Huonders zielstrebige Klimax all seiner Momentaufnahmen einen besseren, pointenreicheren Schluss, als die Leere, welche häufig das Ende seiner Texte charakterisiert. Wir wollen das offenen Ende; aber kein Vakuum, keinen Abgrund, von dem wir keine Kenntnis haben, was uns hinter dessen Schwelle erwartet. Exemplarisch für die inhaltliche Nullstelle steht „Der Hartschalenkoffer“. Was vorgeführt wird, ist ein Mann, der in der Vorahnung des Flugzeugabsturzes, der in seiner bevorstehenden Reise erwarten könnte, seine Reistasche packt. Er möchte nichts vergessen. Das Wichtigste mitnehmen. Erwartungsvoll strebt der Leser dann auf den Schlussaugenblick zu und muss erfahren, dass die Handlung mit der Ankunft am Flughafen endet. Warum so viel der Todes - und Vergänglichkeitsandeutungen? Warum so viele mögliche Vorausdeutungen, wenn sie im Nichts verlaufen?

Huonder lässt das Ende immer offen. Das ist seine ästhetische Konzeption, obgleich sie dem gespannten Anspruch des Lesers, welcher mehr und mehr verführt wird, widerstrebt. Indem er den Schluss ausdünnt, übergibt er die Geschichte der Fantasie des Rezipienten. Ein kluger Schachzug, wäre da nicht die bittere Enttäuschung über die fehlende Zuspitzung. Eigenkreation ja! Aber in der Unvollendung seiner Geschichten liegt eben auch die Schwäche des Buches, von dem nach eingehender, sprachlich durchaus angenehmer Lektüre nicht viel hängen bleibt. Ein Buch, das im Laufe der Zeit leider genauso verblasst wie die gedanklichen Furchen, die es hinterlassen möchte. Indem Huonder die Menschen mit ihren vertanen Chancen, mit ihrer brüchigen Existenz literarisch widerspiegelt, demonstriert er auch die nicht genutzte Chance, einen wahrhaft nachwirkenden Erzählband geschrieben zu haben, der über das Prädikat der Mittelmäßigkeit herausragt.

Von Björn Hayer

Literaturangabe:

HUONDER, SILVIO: Wieder ein Jahr, abends am See. Erzählungen. Verlag Nagel & Kimche AG, Zürich 2008. 176 S., 17,90 €.

Weblink:

Nagel & Kimche Verlag


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