Es war einmal eine schöne Italienerin, Sängerin und Klavierspielerin, Freundin der legendären italienischen Schauspielerin Eleonora Duse, welche 13 Jahre älter ist und sie auf ihren Tourneen begleitet.
Giuletta Gordigiani (1871–1955) ist Trägerin eines weit über Italien hinaus bekannten Namens, Enkelin des als italienischen Schubert gepriesenen Komponisten Luigi Gordigiani (1806–1860) und Tochter des Malers Michele Gordigiani (1830–1909). Dieser war seit 1861 offizieller Bildnismaler des Königreichs Italien. 1865 war er zum Ritter und zugleich zum Mitglied der Akademie in Florenz ernannt worden, 1867 hatte er in London Königin Victoria und Prinzgemahl Albert portraitiert, selbst König Rama V. von Thailand wollte sich auf seiner Europareise 1897 von ihm portraitieren lassen.
Dass eine Tochter aus einem solchen Haus nur einen Ehemann aus einem ebensolchen illusteren Haus ehelichen konnte, war das Gebot der Zeit. Über die Schauspielerin Eleonora Duse, die von Robert von Mendelssohn (1858–1917) geliebt wird und für die er Bankgeschäfte tätigt, lernt sie ihn 1896 kennen.
Robert kommt aus einer der reichsten Familien der aufstrebenden Hauptstadt des Deutschen Reiches, verwandt mit dem Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy und seiner ebenfalls komponierenden Schwester Fanny Hensel, wie diese Nachfahr des hoch geachteten jüdischen Philosophen und Aufklärers Moses Mendelssohn (1729–1786).
Robert, evangelisch, ist 40 Jahre alt, als er am 30. Januar 1898 in Berlin der katholischen Giulietta das Ja-Wort gibt. In seinem Haus verkehren Regierungsbeamte, Diplomaten, Wissenschaftler und Künstler. Giulietta arrangiert einen sonntäglichen Musiksalon. Robert ist leidenschaftlicher Cellist.
Am 13. Januar 1900 gibt er auf dem Berliner Standesamt bekannt, dass in seinem Hause in der Jägerstraße 51 am 12. Januar 1900 ein Kind weiblichen Geschlechts geboren sei. Eleonora Gabrielle Maria Josefa wird am 1. April 1900 von dem evangelischen Pfarrer der Neuen Kirche (Deutscher Dom) mit Wasser aus der silbernen Schale getauft, die ihr Onkel Franz 1890 anlässlich der Geburt seiner ältesten Tochter hatte anfertigen lassen. Eleonora Duse ist eine der Taufpaten, als weiterer Taufpate wird der berühmte Violinist Joseph Joachim genannt, der als Kind von Felix Mendelssohn Bartholdy gefördert wurde und der mit Johannes Brahms und Clara Schumann befreundet war.
Ein gutes Jahr später wird am 6. September 1901 der Bruder Franz geboren, am 30. Oktober ebenfalls evangelisch getauft auf den Namen Franz Otto Michele Hermann, später Francesco gerufen. Eine weitere Tochter, Angelica, stirbt in jungen Jahren.
Im Westen Berlins, maßgeblich vom Ausbau des Prachtboulevards Kurfürstendamm durch Reichskanzler Bismarck initiiert, entwickelt sich eine exklusive Gemeinde im Grünen: Grunewald.
Die Bankiers Robert und sein Bruder Franz von Mendelssohn kaufen sich Bauland. Franz hat mit 23.000 Quadratmetern eins der größten Grundstücke am Hertasee erworben. Die dem Schloss Kronberg im Taunus nachempfundene und vom kaiserlichen Hofbaurat Ernst von Ihne erbaute und 49 Räume umfassende Villa existiert heute umgebaut als gemeinnütziges Michaelsheim. Westlich daran anschließend die Villa von Robert von Mendelssohn. In beiden Villen trifft sich das feinsinnige, künstlerische und reiche Berlin. Der Kritiker Alfred Kerr nennt sie die „Besten, Kultiviertesten“ von allen. (S. 36)
Die Gattin von Franz, Marie von Mendelssohn, ist immerhin so bodenständig, dass es sie ärgert, dass die Duse sich jedes Mal den Wagen anspannen lässt, wenn sie von einer Mendelssohn-Villa zur anderen will.
Gäste sind nicht nur Kaiser Wilhelm II., der die modernen sanitären Einrichtungen bestaunt, auch die Politiker Friedrich Ebert, Gustav Stresemann, Paul von Hindenburg und Walter Rathenau werden eingeladen. Zu den Freunden der Familie zählen Max Planck, Albert Einstein und Max Liebermann.
In der Nähe wohnen Max Reinhardt und Isadora Duncan, die den Tanz revolutionierte, Gustav Gründgens und Samuel Fischer, dessen Nichte Ruth Landshoff zu der engsten Freundin von Francesco und Eleonora gehört.
Gerhard Hauptmann wohnt ebenfalls in Grunewald, seine Kinder spielen mit denen von Engelbert Humperdinck. Rainer Maria Rilke, zeitweise bei Lou Andreas Salomé unweit in Schmargendorf lebend, „gehört zu den zahlreichen Prominenten, die unbedingt den Mendelssohns vorgestellt werden wollen, um durch sie die legendäre Duse kennenzulernen.“ (S. 37)
Bis 1933 gibt es kaum einen Künstler von Rang, der nicht bei den Mendelssohns zu Gast ist. Dazu zählt auch das Wunderkind Yehudi Menuhin, Arthur Rubinstein, der den Bechstein-Flügel eingeweiht hat, Vladimir Horowitz, der ebenso wie Klaus Mann, ein Intimfreund von Francesco wird.
Francesco liebt Gustav Gründgens und viele andere, Eleonora von Mendelssohn Max Reinhardt und viele andere. Sie ist viermal verheiratet. Francesco wird Cellist, Eleonora Schauspielerin. Eine Zukunft wie aus einem Bilderbuch könnte vor ihnen liegen. Beide jedoch, obwohl sehr begabt, haben nur mäßig Erfolg.
Am 29. Januar 1951 um zwölf Uhr mittags tragen acht Männer Eleonora von Mendelssohns schweren Sarg durch den Mittelgang der Little Church Around the Corner in der 1 East 29th Street, der sogenannten Actor’s Chapel. Die deutsche Schauspielerkolonie New Yorks ist fast vollständig in der Kirche zugegen. „Auf der ganzen Welt trauern Freunde um Eleonora. ‚Der schönste, edelste, vielbegabteste, vielgeliebteste, unglücklichste Mensch, dem ich je begegnet war. Die Freundin, die ich sehr geliebt hatte, und der ich nicht helfen konnte’, so Elisabeth Bergner. Annette Kolb fragt, was dieser geheimnisvolle Tod solle, und findet eine Erklärung in der angeblichen Entzweiung von Eleonora und Toscanini: Ihr Leben sei eine halbe Sache geworden nach der Trennung von diesem Maestro, der Teil ihres Ichs gewesen sei. Marlene Dietrich wiederum meint, daß ein Weiterleben wegen ihres Drogenkonsums fürchterlich für Eleonora gewesen wäre. Nicht wenige Freunde allerdings zweifeln an Eleonoras Suizid… ‚Du weißt natürlich, daß sich Ele nicht selbst umgebracht hat’, schreibt Leo Lerman an Ruth Landshoff, ‚und dass dies entweder ein Unfall war oder sie wurde ermordet.’“ (S. 346)
Die Todesursache wird nie ganz geklärt. Ihr Hausarzt Arnold Hutschnecker, der sie jahrlang mit Tabletten und Morphium versorgt hatte (S. 344), findet sie mit einer Überdosis Schlaftabletten und einem äthergetränkten Gazelappen auf dem Mund vor. Es ist der 24. Januar 1951. Sie ist 51 Jahre alt.
Was war in der Zwischenzeit geschehen? Eleonora sagte, als die Nazis an der Macht waren, obwohl als Mischling 2. Grades nach den Nürnberger Rassegesetzen nicht unmittelbar von Verfolgung bedroht und zu diesem Zeitpunkt mit einem ungarischen Adligen verheiratet: „Man kann nicht Mendelssohn heißen und keine Jüdin sein.“ (S.18)
Wie der Großteil der Grunewald-Kolonie, der entweder jüdisch oder linksintellektuell oder beides war, emigriert sie 1935 nach Amerika, ebenso Francesco. Beide haben bereits Amerika-Erfahrung. Mit an Bord des Schiffes sind Kurt Weill und seine Ehefrau Lotte Lenja. Insgesamt 5.000 Theaterleute gehen ins Exil.
Auch hier trinkt Francesco obsessiv und wird auffällig. Eleonora nimmt weiterhin Drogen. Beide sind mehrfach auf Entzug und werden immer wieder rückfällig.
Francesco, der unter Max Reinhardt in Amerika Regie führte, geht ebenso wie seine Schwester erbärmlich unter. Er verbrachte die letzten Jahre seines Lebens meistens in Psychiatrischen Kliniken. Guilietta, seine Mutter, sagte drei Jahre vor ihrem Tod, nachdem er sie in Italien besucht hatte: „…sie wolle ihn nie wiedersehen und würde gerne sterben, jedoch erst, wenn sie Sicherheit habe, dass Francesco vor ihr gestorben sei, andernfalls würde sie sich noch in ihrem Grab um ihn Sorgen machen.“ (S. 348)
Den Gefallen tut er ihr nicht. Er stirbt, fast 20 Jahre später, am 22. September 1972 in New York an den Folgen einer Krebsoperation. „Bei der Beerdigung des einst umschwärmten Bohemiens sind nur einige anwesend. ‚Kein Wunder, denn er wollte ja eigentlich niemanden sehen, und war sehr ablehnend geworden, und die meisten seiner alten Freunde fanden ihn nach seiner gänzlichen Charakter-Veränderung zu langweilig und ließen ihn fallen. Ein trauriges Ende. Aber welch ein Kapitel in unserem Leben.’“ (S.354)
Warum zwei begabte Menschen aus künstlerisch geprägter und wohlhabender Familie ihr Leben nicht in den Griff bekommen, das zu klären, werden wahrscheinlich noch Generationen von Autoren an dem Thema arbeiten müssen. Wenn er nicht als junger Mann den Sprung in die Kirche getan hätte, gesteht Frido Mann in einem Artikel (Tagesspiegel vom 14.12.2008, Seite S1): „… wäre ich wohl den Weg von Klaus gegangen: in die Drogenabhängigkeit, vielleicht den Selbstmord.“ Und weiter, auf die Feststellung der Interviewer, dass er nicht nur der Enkel eines Nobelpreisträgers für Literatur, sondern auch Schwiegersohn des Nobelpreisträgers für Physik, Werner Heisenberg, sei, antwortet er folgendermaßen:
„Ich habe mal in einer Selbsterfahrungsgruppe meine Biografie erzählt, auch diese doppelte Übervatergeschichte, da meinte die Therapeutin zu mir: Mein Gott, was haben Sie sich denn da angetan! Aber der wirklich arme Kerl ist eigentlich mein Sohn: der ist der direkte Abkömmling von beiden.“
Der Autor Thomas Blubacher, promovierter Theaterwissenschaftler, 1967 in Basel geboren, führt uns auf fast 400 Seiten, spannend und gut geschrieben, das dramatische Leben der Mendelssohn-Kinder vor, mehr noch, die untergegangene Belle Epoche der Berliner High Society des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts und ihrer Emigranten aus dem Nazi-Deutschland.
Literaturangaben:
BLUBACHER, THOMAS: Gibt es etwas Schöneres als Sehnsucht? – Die Geschwister Eleonora und Francesco von Mendelssohn. Henschel, Leipzig 2008. 448 S. mit zahlr. Abb., 29,90 €.
Verlag
Mehr von „BLK“-Autorin Jenny Schon