Wer für Mathis Neithard Gothard ursprünglich den Namen „Grünewald“ erfunden hat, ist ungewiss. Es ist überhaupt vieles ungewiss. Sein Geburtsdatum zum Beispiel: irgendwann zwischen 1475 und 1480. Und sein Geburtsort: Wahrscheinlich war es Würzburg. Seine Lehrer: vielleicht Michael Wolgemut (bei dem auch Dürer gelernt hat), vielleicht ein oberrheinischer Meister (womöglich Martin Schongauer selbst?). Genau wissen wir nur, dass er 1528 in Halle gestorben ist. Wir kennen seinen (geringen) Nachlass und wissen, dass er zuletzt als Wasserbaukünstler gearbeitet, das heißt im Auftrag der Stadt Vorschläge für deren Wasserversorgung gemacht hat. Die beiden Jahre davor ist er als „Seifensieder“ in Frankfurt belegt, das letzte von ihm bekannte Werk, eine „Beweinung“, muss um 1525 entstanden sein.
Im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts hat Joachim von Sandrart wohl einige Zeichnungen Grünewalds gesehen, 1675 hat er ihn als „Grünewald“ in seine „Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste“ aufgenommen, einige wenige Lebensdaten gesammelt und ihn damit wieder als großen Meister ins Gespräch gebracht. Seitdem wurde über ihn als den großen Gegenpol zu Dürer geredet und geschrieben, wurde ihm in ausdauernden Streitigkeiten unter Fachleuten ein gesicherter Corpus von Gemälden zuerkannt (wenn man die Altäre mit mehreren Tafeln jeweils als ein Werk rechnet, sind es gerade einmal ein Dutzend erhaltene), wurden streng genommen 32 Zeichnungen als eigenhändig beglaubigt.
Dürer und Lucas Cranach d. Ä. waren fünf bis sieben Jahre älter, Altdorfer und Hans Baldung Grien ein Jahrzehnt jünger. Martin Schongauer, der bedeutendste der oberrheinischen Meister in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, ist 1491 gestorben, wenig über fünfzig Jahre alt. Das macht die so reizvolle Vorstellung, Grünewald könnte bei ihm gelernt haben, leider ziemlich unwahrscheinlich, auch wenn man weiß, dass Lehrlinge bereits in sehr jungen Jahren in die Werkstätten der Meister geschickt wurden.
Man weiß, dass Baldung Grien wohl 1516/17 in Grünewalds Werkstatt gearbeitet hat, man weiß auch, dass dieser nirgendwo lange sesshaft gewesen ist (bekannt sind die Orte Nürnberg, Aschaffenburg, Frankfurt, Mainz, Straßburg (?), Halle. Eine Zeit lang stand er in den Diensten des mächtigen Kurfürsten und Erzbischofs von Mainz, Albrecht von Brandenburg, 1526 ist er aus dessen Diensten ausgeschieden, wie manche Forscher vermuten, seiner Sympathien für Luther wegen (von dem sich im Nachlass die von diesem übersetzte Bibel und einige Schriften befanden).
Das alles ist nicht viel, gemessen etwa an dem, was uns von Cranach und Dürer überkommen ist, sehr wenig. Es gibt keine einzige Druckgrafik von ihm, obwohl doch Holzschnitte und Kupferstiche als Mittel der Verbreitung (und Vermarktung) eines künstlerischen Werks längst üblich waren. Er hat sich dieser Möglichkeit offenbar bewusst entschlagen. Und muss, wenn man dem Überlieferten glauben darf, ein eigenbrötlerischer Künstler gewesen sein. Im Testament gibt es einen Hinweis auf einen Adoptivsohn, anderwärts die Erwähnung eines Sohnes (desselben?) und bei Sandrart taucht sogar schemenhaft eine zänkische Ehefrau auf. Gleichwohl muss er zu seinen Lebzeiten ein berühmter Maler gewesen sein, denn nur einem weithin anerkannten Künstler wurden so große Altarwerke anvertraut, wie wir sie von ihm kennen.
Das und mehr kann man nun in drei großen Katalogen nachlesen, die anlässlich von drei Ausstellungen erschienen sind, die sich jahrelanger, intensiver Forschungs- und (lange noch nicht abgeschlossener) Restaurierungsarbeiten verdanken. Unternommen wurden sie von den drei Museen, die die umfangreichsten Grünewald-Bestände ihr Eigen nennen: natürlich dem Museum Unterlinden in Colmar, das den Isenheimer Altar beherbergt, der Kunsthalle Karlsruhe, die unter anderem immerhin vier seiner Gemälde hat: zwei Grisaillen und die beiden Tafeln des sogenannten Tauberbischofsheimer Altars, und dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, das 19 der erhaltenen Zeichnungen zu seinen Schätzen zählt und in seiner Ausstellung auch alle anderen bekannten (von einer Ausnahme abgesehen) im Original präsentieren kann.
Was solche Institute vermögen, wenn sie einmal alle eifersüchtigen Besitzansprüche beiseitelassen, das hat sich bei diesem gemeinschaftlichen Projekt gezeigt. Nur die Münchener Museen haben ihre beiden Grünewalds, das repräsentative Doppelporträt der Heiligen Erasmus und Mauritius (Porträt deshalb, weil im Erasmus Albrecht von Brandenburg in persona erscheint und Karl V. immerhin in seinem Harnisch) und eine „Verspottung Jesu“, nicht hergegeben. Und die „Stuppacher Madonna“ konnte in der dortigen Kirche nicht vom Altar geholt werden.
Fast das Gesamtwerk Grünewalds konnten und können wir nun einmal gesammelt sehen. (Die Karlsruher Ausstellung endete im März, der Isenheimer Altar ist immer in Colmar, wo er seit dem 19. Jahrhundert aufbewahrt wird, nur die kluge darum„gebaute“ Schau ist zu Ende, im Kupferstichkabinett hat man noch einige Wochen lang die Chance, in die so viel stillere Umgebung der Zeichnungen einzutauchen. Danach bleiben nur die drei opulenten Kataloge. In allen erfährt man Neues, wird vorher Erforschtes kritisch aufgearbeitet und durch Hinweise auf die Arbeiten der Zeitgenossen (was er ihnen verdankt, oder besser: was er sich anverwandelt hat) ergänzt.
Man findet Theorien zum Inhalt, zu den Auftraggebern, zum „Klima“, in dem diese erstaunlichen, rätselhaften Bilder entstanden. Nicht als wenn wir nach der Lektüre der so nüchtern wie sorgfältig formulierten Aufsätze nun grundstürzend Neues erfahren hätten – es sind Einzelheiten, die ans Licht treten. Nur die Kuratorin der Zeichnungen, Antje-Fee Köllermann, wagt sich mit ihrer These sehr weit vor, dass Grünewald sich als Lehrling womöglich nicht nur am Oberrhein aufgehalten (was plausibel ist), sondern sogar als halber Knabe in Schongauers Atelier gelernt habe. Man erfährt, wer die jeweiligen Auftraggeber waren und – da über sie manches Schriftliche in den Dokumenten erhalten ist – was für Persönlichkeiten sie waren: der Frankfurter Kaufmann Jakob Heller, der, obzwar eigentlich geizig (Dürer wusste das zu beklagen), seinem Seelenheil zuliebe den nach ihm benannten Altar stiftete, dessen von Dürer gemaltes Madonnenbild nur noch in einer Kopie existiert.
Aber es gibt Grünewalds wundersame „Standfiguren“, Grisaillen von zwei weiblichen und zwei männlichen Heiligen, in denen die aus den Niederlanden eingewanderte „Steinmalerei“ sich in unendlichen Schattierungen von Grau und wenigen zarten, farbigen Andeutungen derart überzeugend darstellt wie nirgendwo sonst. (Zwei sind heute in Frankfurt, zwei in Karlsruhe – alle vier sind auch in der Berliner Zeichnungsausstellung zu sehen.) Gegenüber ihrer Vollkommenheit verblasst alles, was nördlich der Alpen in dieser Technik gemalt wurde, nur bei Mantegna gibt es ähnlich wunderbare Findungen. In Colmar hat man als Auftraggeber des Isenheimer Altars den Präzeptor des Antoniterordens (der sich vor allem der Krankenpflege widmete) in Guy Guers identifiziert (wie er im Colmarer Katalog heißt) oder Guido Guersi (so im Karlsruher und Berliner Katalog).
Man nimmt an, dass es sich dabei um einen sehr gelehrten Mann gehandelt hat, der auch das „Bildprogramm“ des mehrflügligen Retabels bestimmt hat. Aus einem Katalogbeitrag kann man auch entnehmen, dass der ganze große Altar vermutlich in Straßburg gemalt wurde und nicht in der (inzwischen längst abgerissenen) Isenheimer Klosterkirche. Man kann nachlesen, wie es zu einer so offenkundigen Übereinstimmung von Faltenwürfen zwischen einer Zeichnung Leonardo da Vincis und einer von Grünewald gekommen ist, auch wenn die Annahme einer Italienreise des deutschen Meisters nicht beweisbar ist.
Im Karlsruher Katalog gibt es einen ausführlichen Aufsatz (mit technischen Zeichnungen der Zeit und Details aus einem der Isenheimer Antoniusbilder) über Grünewalds offenbar erhebliche Kenntnisse im „Wasserbau“. Der Zeichnungstechnik des Meisters widmen sich Aufsätze im Colmarer und Berliner Katalog, er hat mit Kohle (und nicht schwarzer Kreide) gearbeitet, die er feucht fixierte. (Wie das funktioniert, wird demonstriert.) Auch einem besonders seltsamen Blatt, dem sogenannten „Dreigesicht“, wird eine ausführliche Analyse gewidmet, wobei die Deutungen von einer angesichts der drei hässlichen Köpfe unwahrscheinlichen Darstellung der „Dreifaltigkeit“ über eine Idee des Chiromanten und Physiognomikers Johannes ab Indagine (eine Porträtzeichnung des Malers stellt ihn vermutlich dar) bis hin zu der These reichen, es handele sich um eine anti-katholische, reformatorische Karikatur nach einem Text Ulrich von Huttens.
Aber vielleicht gab es ja auch rein technische Gründe für diese aneinandermontierten Köpfe, die einzeln auf verschiedenen Bildern auftauchen. Die Glückzufälle, die es brauchte, damit überhaupt Zeichnungen Grünewalds überlebten, die ja mit wenigen Ausnahmen als genaue Detailstudien zu den Gemälden zu begreifen sind, werden im Berliner Katalog erläutert: Einige fand man eingeklebt in eine Bibel, die der Seidensticker Plock in Halle (der den Nachlass des Malers übernahm) in seinem privaten Besitz hatte, andere zwischen unbedeutenden Blättern in einem Sammelband aus dem Besitz des Juristen Carl von Savigny. Auch was es mit den Plissee-Zeichnungen auf sich hat, zu denen es Dürer-Vorlagen gibt (aber wie hat Grünewald sie verändert und vervollkommnet!), kann man erfahren.
Die drei Kataloge sammeln alles, was Kunstinteressierte heute über Grünewald erfahren können. Die Beiträge sind kenntnisreich, gut geschrieben, entsprechen jeweils dem neuesten Forschungsstand. Schwierig wird es nur, wenn darin von den religiösen Vorstellungen des Malers die Rede ist: Da können die Autoren (es sind mehrere) nur mit gescheiten Vermutungen arbeiten. Ob in Grünewalds Spätwerk wirklich eine Auseinandersetzung mit der Reformation auszumachen ist, bleibt trotz aller Indizien ungewiss.
Sicher ist nur, dass es keinen Maler gegeben hat, der das Leiden des Gekreuzigten so brutal ausgestellt hat, dabei - wie zahlreiche Bilder aus der gleichen Zeit zeigen - die „devotio moderna“ – steigernd zum baren Schrecken, der sich in den Kreuzigungen umso härter äußert, je später sie gemalt sind – bis hin zur totalen Verdüsterung auf der Karlsruher Tafel und jener heute in einer Privatsammlung aufbewahrten „Magdalenenklage“, in der Jesus nur von der Seite sichtbar ist. (Wir haben das Bild nur in einer sehr viel späteren Kopie. In Karlsruhe war es zu sehen.) Im Colmarer Katalog sind übrigens alle erhaltenen Gemälde (auch die nicht verfügbaren) abgebildet, so wie der Berliner das gesamte Zeichnungswerk umfasst (auch das Blatt aus Winterthur, das nicht ausgeliehen werden kann, in einem maßstabgetreuen Faksimile).
Wer genau hinsieht, der wird bemerken, dass es im ganzen Werk – abgesehen von wenigen Porträtzeichnungen – nichts gibt, was auf eine „normale“, gleichsam naturalistische Weise der Menschendarstellung hinweist (wie sie bei Dürer so häufig ist). Grünewalds Figuren sind ekstatisch: im Leiden oder in der Glorie. (Deshalb hat man sie viel später auch „expressionistisch“ genannt.) Die „Auferstehung“ vom Isenheimer Altar bricht mit allen Konventionen des Themas, geht sozusagen gleich in die Himmelfahrt über, und das „Engelskonzert“ ist trotz aller Bemühungen bis heute in seinem ikonographischen Gehalt nicht zureichend erklärt. Dass beides auch mit erfahrbarem, wenn schon überirdischem Glück zu tun hat – das freilich ist offensichtlich.
Dieser Meister bewahrt seine Geheimnisse. Er löst Bewunderung und Entsetzen aus, auch noch bei uns späten, säkularisierten Menschen, denen die Seelenverfassung des späten Mittelalters und der Renaissance (auch die findet sich immer wieder!) fremd geworden ist.
Literaturangaben:
BÉGUERIE-DE PAEPE, PANTIXA / LORENTZ, PHILIPPE: Grünewald und der Isenheimer Altar. Somogy Éditions d’Art, Colmar/Straßburg 2008. 280 S., 32 €.
GRÜNEWALD, MATTHIAS: Grünewald und seine Zeit. Katalog zur Sonderausstellung des Landes Baden-Württemberg in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe, 2007/2008. Deutscher Kunstverlag, München 2008. 480 S., 39,90 €.
ROTH, MICHAEL / KÖLLERMANN, ANTJE-FEE: Matthias Grünewald. Zeichnungen und Gemälde. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2008. 258 S., 35 €.
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