Von Isabelle Daniel
In den achtziger Jahren führte der tschechische Journalist Karel Hvížďala von seinem deutschen Exil aus eine Reihe von Gesprächen mit tschechoslowakischen Intellektuellen, die die Landschaft des Widerstands gegen das sie unterdrückte kommunistische Regime dominierten. Hvížďala nannte sie „Zeugen der Widerlegbarkeit der Welt“: Philosophen, Denker, Dichter, die die Vielschichtigkeit der Welt fernab aller Ideologie zu begreifen versuchten. Zum bekanntesten Bestandteil des Bücherzyklus avancierte Hvížďalas „Fernverhör“ mit Václav Havel. Es ist das Protokoll eines Schriftverkehrs zwischen Hvížďala und dem späteren ersten Präsidenten der Tschechischen Republik. In den Wintermonaten des Jahres 1985 beantwortete Havel die Fragen Hvížďalas in Briefen sowie auf zehn Tonbändern: Einen Ausschnitt dieser 14-stündigen Aufzeichnungen gab Hvížďala schließlich als Buch heraus.
Das Interview vereinbart sämtliche Stile der Sachliteratur: Es ist Porträt, Autobiographie, Auseinandersetzung mit der zum Erscheinungszeitpunkt bestehenden politischen Situation und Aufklärungswerk gleichermaßen. Biographisch ist das 276 Seiten zählende Buch naturgemäß: beeinflusst vom Journalisten, der die Fragen stellt sowie von Havel, der diese – teils sehr persönlichen – Fragen im Detail beantwortet und sich damit selbst porträtiert. Es ist aber auch immer noch das Aufklärungswerk, das es bereits 1985 für diejenigen war, die Zugang zur Samisdat-Literatur hatten oder sich vom Westen aus über die Repressionsmechanismen der sowjetischen Diktatur informieren konnten. Wer Havel heute liest, begreift besser, warum seine Wahl zum ersten tschechischen Präsidenten so besonders, warum Theater und Literatur im Kommunismus von so enormer Bedeutung waren. Vor allem aber entromantisiert dieses Buch die kitschige Illusion vom unterdrückten Schriftsteller, der vom Untergrund aus schreiben muss und andernorts für die Veröffentlichung seiner Werke in Exilverlagen gefeiert wird. So spricht Havel über die vielen Differenzen zwischen Exilautoren und daheimgebliebenen Intellektuellen, über seinen offenen Streit mit Milan Kundera über den Nutzen des Widerstands und über sein Engagement in der Literaturzeitschrift „Tvář“. Wie Havel die Möglichkeiten des Widerstands und die Aufgabe der intelligentia in Zeiten der Unterdrückung reflektiert und analysiert, verdeutlicht dem Leser zweierlei: nämlich erstens, dass die Systemrebellen in der Tschechoslowakei keinesfalls eine homogene, sich gegenseitig unterstützende Gruppe bildeten und zweitens, dass die friedliche, unter anderem künstlerische Auflehnung, wie Havel sie repräsentierte, eine tatsächlich akute Gefahr ebenso für das System wie für den Künstler selbst bedeutete.
Es sind die Kapitel, in denen Havel von seiner Verhaftung infolge seiner „Charta 77“-Initiative berichtet, in denen dem Leser bewusst wird, dass die politische Gefangenschaft in der Tschechoslowakei jeglicher Menschlichkeit entbehrte und in denen Havel die Außenwelt an den Quälereien teilhaben lässt, denen er und andere vermeintliche Straftäter in der Haft ausgesetzt waren. Die Demütigung, die damit einherging, nicht das und nicht so schreiben zu dürfen, was und wie er es wollte, verknüpft Havel mit den anderen Gründen, wegen derer er keine Geschichten über seinen Gefängnisaufenthalt schrieb: „(...) das Leben draußen beschäftigt mich zu sehr, mit seinen eigenen Themen greift es mich zu sehr an, wie ich es unmittelbar und aktuell erlebe, als dass ich fähig wäre in eine völlig andere und abgelegene Welt meiner Gefängnisjahre zurückzukehren: diese Welt verschwimmt mir in einem eigenartigen Nebel; alles darin fließt in der Gestalt eines unklaren und nicht mitteilbaren Traumes zusammen; ich fühle nicht das lebendige Bedürfnis davon zu erzählen; mir scheint es – als persönliche Erfahrung – zu sehr der Vergangenheit anzugehören, und zugleich fühle ich mich zu sehr gezwungen, mich mit der Gegenwart zu befassen, als dass ich eines Zurückgehens und einer konzentrierten Evokation dessen fähig wäre, was gewesen ist. (…) das Wichtigste kommt mir nicht mittelbar vor. Wirklich: als tief existentielle und tief persönliche Erfahrung kann ich das einfach nicht darstellen.“ Einen Teil freilich stellt Havel doch dar: Er erzählt von der Entstehung der „Briefe an Olga“, von seiner Experimentierfreude, die Situation im Gefängnis trotz der zahlreichen formellen Einschränkungen, die bei Briefen zu beachten waren, zu schildern und vom Risiko, Aufzeichnungen zu machen, die jederzeit entdeckt und bestraft werden konnten.
25 Jahre nach seiner Veröffentlichung ist das „Fernverhör“ eine nahezu einmalige historische Quelle: über die Funktion des Dramatikers im Allgemeinen, aber auch über die Funktion und Selbsteinschätzung Václav Havels im Speziellen. Kaum deutlicher hätte Havel 1985 formulieren können, dass er seine Rolle nicht in der Politik, sondern in der Kunst sah. Genauso deutlich, wenn vielleicht auch unbeabsichtigt, begründete er aber die Notwendigkeit seines politischen Engagements.
Literaturangabe:
HAVEL, VÁCLAV: Fernverhör: Ein Gespräch mit Karel Hvížďala. Rowohlt Verlag, Reinbek 1990. 288 S., 6,50 €.
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