GÖTTINGEN/WICKLOW (BLK) - Hat ein Autor eine tief tragische, und zugleich unglaublich vitale literarische Figur erschaffen, gibt es manchmal Überraschungen. „Sie war für die Leser realer als ich selbst“, sagt der irische Schriftsteller Sebastian Barry nach seiner Lesereise durch Deutschland. Gemeint ist Roseanne McNulty, die hundert Jahre alte Hauptperson seines neuen Romans „Ein verborgenes Leben“, der kürzlich im Göttinger Steidl Verlag erschienen ist.
60 Jahre hat sie in einer Psychiatrie zugebracht. Niemand weiß, warum die einst schöne junge Frau gekommen war. „Ich bin vollkommen allein, in der weiten Welt - außerhalb dieser Mauern gibt es niemanden, der mich noch kennt“, lässt Barry sie über ihr immer wieder aufs neue zerstörtes Leben schreiben: Vom Tod des Vaters im irischen Bürgerkrieg, dem Wahn der Mutter, der Ächtung als „Nymphomanin“ durch Ehemann und Kirche bis zum Verschwinden des neugeborenen Sohnes, den sie selbst umgebracht haben soll. Und dann die Anstalt.
Er habe diese Figur nach einer Großtante erfunden, erzählt Barry aus seinem abgelegenen Domizil in Wicklow südlich von Dublin. In Irland und Großbritannien wird der Roman nach Meinung des Autoren auch als politisches Buch gelesen: „Es ist die Geschichte von Außenseitern, die den totalen Triumph von Nationalismus als Opfer zu durchleiden hatten. Das ist eine neue Sicht für viele in Irland.“
Mit seiner unwiderstehlich schönen, nie lauten Prosa hat Barry der alten Frau eine Stimme gegeben. Während er am Roman schrieb, starb seine Mutter, die Schauspielerin Joan O'Hara. Lange hatte Barry mit ihr am irischen Nationaltheater kooperiert. Als es ihr immer schlechter ging, löste sich ihre Beziehung als Freunde und Partner am Theater auf.
Das könnte beigetragen haben zu dem faszinierenden Kontrast zwischen der erbarmungslosen Zerstörung eines Lebens und der poetischen Erinnerung daran. „Achtsam muss ich die Spreu vom Weizen trennen. Wenn mir eine Seele geblieben ist, und vielleicht ist das ja gar nicht der Fall, so wird sie darauf angewiesen sein“, schreibt Barrys Hauptperson.
Roseannes Liebe ihres Lebens ist der Vater. Der Protestant verliert seine Arbeit als Friedhofswärter und wird vom mächtigen katholischen Pfarrer zum Rattenfänger degradiert. Eine vom Vater mit Benzin getränkte Ratte löst ein Feuer aus, bei dem 123 Heimkinder sterben. Wie kann ein Mensch eine derartige Erinnerung ertragen?
Da ist auch die Geschichte, wie der Vater fröhlich auf einem Turm beweisen will, dass die Fallgeschwindigkeit von Hämmern dieselbe ist wie die von Federn. Die Tochter staunt und schreibt 90 Jahre später über ihre nie erstorbenen Liebe: „Manchmal glaube ich, es ist der Hang zur Lächerlichkeit bei einem Menschen, zu einer womöglich aus Verzweiflung geborenen Lächerlichkeit, (...) der einen mit Liebe zu diesem Menschen geradezu durchbohrt.“
Doch nach Aufzeichnungen des Pfarrers, der Roseanne als angebliche Ehebrecherin zu zehn Jahren Einsamkeit in einer verlassenen Hütte verdammt hat, war der Vater gar nicht Friedhofswärter, sondern Polizist. Und Trinker. Im Bürgerkrieg hätten Katholiken den Protestanten auf einem Turm mit Hämmern geschlagen, ihm den Mund mit Federn gestopft und aufgehängt.
Das Ende bringt eine Wende mit überraschend versöhnlichem Ausgang. Barry begründet ihn mit seiner bedingungslosen Liebe zur Hauptfigur: „Ich wollte Roseanne nicht so gehen lassen, dass irgendjemand noch hätte denken können, sie habe vielleicht ihr Kind umgebracht. Deshalb dachte ich, es sei meine Pflicht, etwas für sie zu finden.“
Roseanne verabschiedet sich vor ihrem Tod: „Ein Gerücht von Schönheit ist alles, was jetzt noch von mir bleibt.“ Für Barry hat der Roman diesen Satz widerlegt, was „ein bisschen Magie“ habe: „Weil es eine Frau ist, die überhaupt keine Freunde hatte. Jetzt hat sie vielleicht Hunderttausende.“ (dpa/wer)
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