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Feuchtes Missverständnis

Charlotte Roches Roman „Feuchtgebiete“

© Die Berliner Literaturkritik, 22.08.08

 

Das Nummer-1-Bestsellerbuch „Feuchtgebiete“, mit dem Charlotte Roche als Verkünderin einer neuen, noch feministischeren Befreiung gefeiert wird, ist ein trauriges Buch. Die aus der Ich-Perspektive erzählende Protagonistin Helen leidet an Ich-Schwäche und erheblichem Persönlichkeitsdefizit, weiß aber weder, woran noch dass sie leidet. Gesagt wird dem Leser nichts davon, doch gleich unter der locker-fröhlichen Oberfläche steckt ein tiefes menschliches Elend.

Siebenhunderttausend Leser und hundert Rezensenten interessieren sich nicht für die literarische Gestaltung, ihnen geht es um Aussagen über die Realität. Charlotte Roche ist etwas gelungen, wonach Romanciers vergeblich trachten, nämlich ein Wirklichkeitsausschnitt. Man kann das Buch als Dokument einer Krankengeschichte lesen. Die meisten Psychiater bekommen weniger verraten.

Helen lebt eine infantile Sexualität, sie ist psychisch auf dem Stand von zehn Jahren steckengeblieben. Im Buch zeigt sie sich uns als sexuelle Pippi Langstrumpf, als eine, der nichts peinlich ist und die all das darf, was sich die anderen volljährigen Kinder nicht trauen. Darüber lacht man in Charlotte Roches Lesungen laut bis schallend, so wie man über „Dumm und dümmer“ lacht oder über Mister Magoo, den fast blinden Cartoon-Charakter. Nur ist jemandem, dem nichts peinlich ist, eigentlich alles peinlich, er überspielt es nur vor anderen und sich, bis die Peinlichkeit verschwindet.

Helen ist eine Person, die nicht weiß, wer sie ist, die nach Bestätigung und Selbstvergewisserung sucht, ohne einen Begriff davon zu haben. In Beziehung zu ihrem eigenen Körper setzt sie sich durch autoaggressives Verhalten. Ihre Entgrenzung übt sie aus, indem sie Körpersekrete verteilt. Ihre antihygienischen Aktionen sind ein Aufbegehren gegen einen vermeintlichen autoritären Druck, ein Ersatz für die Auseinandersetzung mit den Eltern oder die Rache für Gewalterfahrungen.

Wenn es noch erhobene Zeigefinger in der Literatur gäbe, könnte Helens Geschichte als Beispiel herhalten: Seht, was passiert, wenn ein Kind ohne Liebe, aber in einer durchpornographisierten Umwelt aufwächst. Stattdessen registrieren die nach Tabubrüchen süchtigen Konsumenten unter der Leselampe und in den Feuilletonredaktionen nur die Tabubrüche. Helen sagt, sie könne sich vorstellen, mit ihrem Vater Sex zu haben. Hui, wie tabuabgeschüttelt! Wieder einmal stehen die Konventionen dem Spaß im Wege, und wer Spaß hat, hat Recht.

Die arme Helen. Sie hat eine Fantasie, die für die vorpubertäre Phase gewöhnlich ist und für gewöhnlich genauso wieder verschwindet, wie sie gekommen ist: durch Fortschreiten des Entwicklungsprozesses der Persönlichkeit. Nur wenn er stehenbleibt wie bei Helen, wird die Vorstellung zur Option.

Goethe ist nicht Werther, Charlotte Roche ist nicht Helen. In der Darstellung der aus der psychischen Deformation resultierenden Verhaltensweisen und der das Eigentliche aussparenden Selbstbetrachtungen ist Roche absolut authentisch. Sollte sie auch noch etwas ähnlich Erhellendes über Autisten oder gewalttätige Jugendliche schreiben, würde sie der Forschung einen hohen Dienst erweisen.

Wollte sie also in Wahrheit gar keinen modernen ungewaschenen Frauentyp installieren, sondern unsere Unfähigkeit hinzuschauen vorführen, unseren Hang zur Indifferenz bloßstellen?

Danach sieht es nicht aus. Die Figur des Pflegers Robin, ebenso wie Helen ihr fiktives Produkt, wird für Helen der erste, der sich offenbar wirklich um sie sorgt im Gegensatz zu den anderen Krankenhauskräften, für die sie lediglich einen Fall darstellt, oder auch nur die erste Bekanntschaft, mit der es über mehrere Tage bei verbalen Intimitäten bleibt, was für Kinder wie Helen Grund genug zum Verlieben ist. Der positive Held also. Er sagt, bezogen auf ihre Untenrum-Unbefangenheit, er wünsche sich, es gäbe mehr Mädchen wie sie.

Hier spricht die Propagandistin, mindestens die Distanzlose, die Gestörte, die sich wünscht, es gäbe noch mehr Gestörte wie sie. Die ihre Störung zur Norm machen möchte. Kann gelingen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Krankheitsbild nach einer literarischen Figur benannt wird. Helenismus wird in zehn Jahren diagnostiziert, wenn Scheidungskinder mittels ekligen Verhaltens versuchen, das Gefühl der Herrschaft über ihren Körper zu erlangen, und wird in zwanzig Jahren als Lebensentwurf akzeptiert.

Von Bernd Zeller

Literaturangaben:
ROCHE, CHARLOTTE: Feuchtgebiete. Roman. DuMont, Köln 2008. 220 S., 14,90 €.

Verlag

Charlotte Roche im BLK-Blickpunkt


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