Von Klaus Hammer
Sein Leben war kurz und wenig ereignisreich. Als er 31jährig starb, hatte er bisher gerade zwei Bilder verkaufen können. „Im Grunde hat unser armer Freund sich durch Überarbeitung getötet“, kommentierte Paul Signac die unerwartete Todesnachricht. Er katalogisierte dann die künstlerische Hinterlassenschaft des Freundes, und der Kunstkritiker Felix Fénélon teilte in seinem Nachruf lapidar das Ergebnis mit: „Das Verzeichnis seiner Werke enthält 170 Tafeln in Zigarrenkistengröße, 420 Zeichnungen, 6 Skizzenbücher und ungefähr 60 Gemälde, darunter 5 großen Formats, die wahre Meisterwerke sind“.
Diese 5 bis 6 großformatigen Figurendarstellungen, monumentale „Ideal-Gemälde“ mit Genrethemen des Alltags, haben den Ruhm Seurats begründet. Aber nur eines dieser Hauptwerke , „Der Zirkus“ (1890-91, Musée d’Orsay Paris) befindet sich heute in Frankreich, die anderen sind in alle Winde zerstreut: „La Baignade“ (Die Badenden, 1883-84) besitzt die National Gallery London, „Ein Sonntagnachmitag auf der Insel La Grande Jatte“ (1884-86) das Chicagoer Art Institute, „Poseuses“ (Modelle, 1887) die Barnes Foundation de Merion, Pennsylvanie, „Zirkusparade“ (1887-88) das Metropolitan Museum New York und „Le Chahut“ (1889-90) das Rijksmuseum Kröller-Müller Otterlo (Holland). Wir kennen sie eigentlich nur in verkleinerten Reproduktionen, die die erstaunlich vielfältige Technik des Originals in keiner Weise wiedergeben.
Auch die vom Kunsthaus Zürich organisierte und jetzt in Frankfurt am Main gezeigte Überblicksausstellung (bis 9. Mai 2010) muss das Handicap in Kauf nehmen, dass nur eines der Hauptwerke, „Der Zirkus“, die Reise an den Main antreten konnte. Die Oberfläche der großen Gemälde ist zu fragil, so dass sie an ihrem jeweiligen Standort verbleiben müssen. Aber hätten sich sonst die Besucher um diese so spektakulären Meisterwerke gedrängt, können sie nun mit Muße und Genuss etwa 60 Gemälde und Gemäldevarianten, Ölstudien und Zeichnungen betrachten, die Seurat mit methodischem Eifer und handwerklicher Präzision – und vielfach zur Vorbereitung seiner großformatigen Hauptwerke - angefertigt hat. Die kleinformatigen Arbeiten waren lange Zeit in Privatsammlungen der Öffentlichkeit nicht zugänglich, aber sie sind auch in den großen Museen nur in Kabinetten oder wegen ihrer Lichtempfindlichkeit selten zu sehen. Für diese Ausstellung wurden sie mühevoll aus aller Welt zusammengetragen. Damit lichtet sich nun zusehends das Dunkel, das der große Neoimpressionist selbst um Lebensführung und Schaffensprozess gelegt hatte. Denn er wollte das „Geheimnis“ seiner Kunst vor Nachahmung schützen.
Ein zentraler Aspekt im Werk Seurats wird ins Visier genommen, das Verhältnis von Figur und Raum. Aus verschiedenen Perspektiven setzte sich der Künstler mit den Figuren auseinander, variierte sie, hielt sie in unterschiedlichen Ausschnitten fest, montierte sie schließlich aus Vorstudien in seine Gemälde. Selbst dort, wo die menschliche Figur keine Rolle spielt, in den Naturstudien und Landschaften, übernehmen Bäume, Hügel oder Schiffsmasten deren Funktion.
Die die Ausstellung begleitende Publikation enthält neben einer von Julia Buckhardt besorgten eindringlichen Seurat-Biografie Aufsätze, die aus verschiedenen Blickwinkeln sich mit dem Künstler und dessen Thema Figur und Raum auseinandersetzen. Der Kunsthistoriker und Philosoph Gottfried Boehm untersucht den historischen Hintergrund und das intellektuelle Umfeld , in dem Seurat stand , und setzt sich mit den künstlerischen Neuerungen auseinander, die dieser Künstler in die Kunst der Moderne einbrachte. Der Schriftsteller Wilhelm Genazino vermag mit sensibler Beobachtungsgabe dem Thema Figur und deren gesellschaftlichen Umfeldes neue Erkenntnisse abzugewinnen. Die Kunsthistorikerin Michelle Foa stellt die Verbindung zu Hermann von Helmholtz, einem der bedeutendsten Physiker des 19. Jahrhunderts, her und analysiert die Wechselwirkung zwischen Naturwissenschaft und Kunst, die für die Entwicklung von Seurats pointillistischer Malweise von grundlegender Bedeutung war. Es geht nicht darum, schreibt Christoph Becker, der für Ausstellung und Katalog verantwortlich zeichnet, im Vorwort, „den Künstler in sämtlichen Facetten zu zeigen, ebenso wenig wie wir uns auf eine einzige Methode zur Rezeption seines Werkes einlassen wollen. Was Seurat bis heute so faszinierend macht, ist gerade die Vielfalt der Näherungen, die seinem Werk implizit ist“.
Wie also kann man sich auf die Vielfalt der Näherungen einlassen? In der Ingres-Tradition an der École des Beaux-Arts in Paris ausgebildet, ließ sich Seurat schon früh sowohl von den geometrischen Kompositionen Piero della Francescas, des Meisters der toskanischen Frührenaissance, den Wandbildern Delacroix’ mit ihren lichtverbreitenden Farben als auch von den straff idealisierten, antikisierenden Allegorien Puis de Chavannes beeindrucken. Ihn faszinierte das Körperhafte im unruhigen Spiel von Licht und Dunkelheit. Rembrandt und Millet wiesen dem Zweiundzwanzigjährigen den Weg zum eigenen Zeichenstil. Seinen künstlerischen Durchbruch aber erreichte er mit dem Gemälde „La Baignade“, in dem sich schon der Einfluss der Impressionisten zeigte. Es war mit breiten, flach aufgetragenen, ineinander gewischten Pinselstrichen gemalt, um dem Auge die Möglichkeit zu geben, sie miteinander zu vermischen. Seurat entwickelte daraus eine wissenschaftliche Methode, um visuelle Phänomene wiederzugeben. Er machte zuerst ganz in impressionistischer Art Farbskizzen, dann kombinierte er sie und arbeitete die Details nach seiner Formel mühsam im Atelier aus. Das Resultat war eine Komposition von fast klassischer Ordnung und eine Oberfläche von fast mechanischer Regelmäßigkeit.
In „La Grande Jatte“, seinem wohl berühmtesten, 2x 3 Meter großen Werk, verkehrte Seurat den Impressionismus schon in sein Gegenteil. Die Vielfalt und Zufälligkeiten der Impressionisten waren hier in eine formale, klassische Struktur geronnen, die Welt des Gewöhnlichen wurde zu einer universalen Geometrie geordneter Vertikalen und Horizontalen verdichtet. Die Figuren sind erstarrt, wie auf eine Fotoplatte gebannt. Das Monumentalbild ist eine aus einzelnen Studien versatzstückhaft zusammengesetzte Synthese, die ebenso glänzende wie pedantisch genaue Inszenierung eines Kunstwerkes. Denn wie für „La Baignade“ entwarf Seurat zunächst in Zeichnungen das „Bühnenbild“, die menschenleere Landschaft, und in Holzbrettchen, auf denen er mit Ölfarben skizzierte – „croquetons“ nannte er sie -, studierte er ihre Farben- und Lichtzustände. Dann skizzierte er im Freien unermüdlich Spaziergänger, Angler, spielende Kinder, im Grase Ruhende, indem er sie bereits so stark wie möglich vereinfachte. Erst in den letzten Studien erscheint das große Paar, das am Ende die rechte Bildseite beherrscht. Wie zu einer „Stellprobe“ setzte er dann im Atelier die Figuren zu kleinen Gruppen zusammen und ordnete sie in die Bühnenlandschaft ein. Um das Bild, eine Demonstration der neuen wissenschaftlichen Malmethode, fertig zu stellen, brauchte er zwei Jahre. Er rief einen Skandal hervor, einen „Vorbeimarsch von Beleidigungen und Verhöhnungen“ (Paul Signac). Publikum und Kritik sprachen ironisch von „Fliegendreck- und Punktmanier“. Denn die Komposition ist ganz aus Farbpunkten zusammengesetzt, aus vorsichtig gesetzten Farbflecken, die im Gras kreuzweise übereinander gelegt sind, horizontal im Wasser und den Konturen folgend in den Figuren. In dem Kritiker Fénélon fanden Seurat und seine Methode jedoch einen Verbündeten, er prägte auch die von der Kunstgeschichte akzeptierte Stilbezeichnung Neoimpressionismus, andere sprachen von Divisionismus oder Pointillismus, Seurat selbst bevorzugte den Ausdruck „Chromoluminarismus“.
„Poseuses“ stellt ein alles andere als sinnlich wirkendes Aktmodell in drei verschiedenen Stellungen – in reiner Rücken-, Vorder- und Seitenansicht – dar; nichts verbindet die drei miteinander. Auf der linken Wand der schmalen Raumbühne sieht man ein Stück der „Grande-Jatte“, ein Bild im Bilde. In der „Zirkusparade“ ist die Verengung des Raumes noch weitergetrieben: Die frontal, im Profil oder in Rückenansicht wiedergegebenen Figuren der Schausteller und Zuschauer sind in drei aufeinander folgenden Parallelebenen angeordnet. Verblüffend die räumliche und geometrische Präzision im Beiläufigen und Flüchtigen; in dem diffusen Gaslicht von bläulich violetter Farbigkeit wirken die Figuren silhouettenhaft. Seurat verzichtete ganz auf Naturform und -farbe, es ging ihm nur noch um das künstlich gebaute Bild. Die entlegene, traumhafte Stille von „Zirkusparade“ ist dann in „Le Chahut“, ein dem Cancan ähnlicher Bühnentanz, ersetzt durch einen Aufruhr von Lärm und Bewegung – aber auch die Bewegung ist gefroren durch die dominierende ornamentale Kurve als dekoratives Element.
Ausstellung und Katalog lenken den Blick aber auch auf den besonderen Zeichenstil, den Seurat mit der Technik des Crayon Conté erreichte. Unter völligem Verzicht auf die Linie arbeitete der Künstler mit dem Zeichenstift auf grobem Ingres-Papier und verstand es, nur mit Hilfe großflächiger Schatten und Halbschatten jeden beliebigen Gegenstand räumlich wiederzugeben – es entstand eine regelrechte Schwarz-Weiß-Malerei. In dieser raffinierten Licht- und Schatten-Technik zeichnete Seurat Porträts und arbeitende Menschen, Promenierende, Ruhende, Landschaften aus der Umgebung von Paris und zahlreiche Vorstudien zu den Tonwerten und der Raumaufteilung in seinen großen Bildern.
Mit seiner bis zuletzt angewandten divisionistischen Methode und pointillistischen Technik konnte Seurat zwar alle von ihm beabsichtigten Farbwechsel und -werte malen; aber es war kein dynamisches System und eher für ruhige, hieratische als bewegte oder dramatische Motive geeignet. Am besten konnte er damit Landschaften malen, in der Umgebung von Paris wie vor allem an der Kanalküste mit leeren Promenaden, flachen Seehorizonten und lichtdurchfluteter Ruhe. Verwendete Seurat auf seinen Grandcamp-Bildern noch Vegetationsmotive, so verzichtete er später auf den in Honfleur, Port en Bessin, Le Crotoy oder Gravelines entstandenen, streng geometrischen Seestücken fast völlig darauf. Gerade ihre beängstigende Stille macht die atemstockende Faszinität der Seuratschen Bildwelt aus.
Und dennoch: Nicht die „wissenschaftliche“ Methode hat Seurat wohl zu dieser lichten, zarten, bei aller Heiterkeit immer etwas melancholischen Farbstimmung geführt, sondern seine künstlerische Meisterschaft.
Literaturangabe:
BECKER, CHRISTOPH (Hrsg.): Georges Seurat. Figur im Raum. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2009. 151 S., 113 Abb., 39.80 €.
Weblink: Hatje Cantz Verlag