Ein älterer Herr bricht auf zu seinem abendlichen Spaziergang – im flusenfreien Dufflecoat, mit auf dem Trottoir widerhallenden Lederschuhen: Er heißt Mulder, ist wohlhabend, alleinstehend, ein niederländischer Privatier, der in Paris lebt, guten Wein, die Kunst und lieb gewonnene Rituale schätzt und als Gedächtnisübung jeden Abend die eingravierten Jahreszahlen auf dem Denkmal memoriert, bei dem er immer kehrtmacht. Er schlendert wie gewohnt an der Grafikhandlung vorbei, fischt eine Feder aus dem Becken des Springbrunnens und geht ein Stück mit dem taubstummen Chinesen, der einen Einkaufswagen voller Pappkartons vor sich herschiebt, aus denen der Obdachlose jeden Abend kunstvolle Schlafkokons faltet, kleine Sputniks für die Nacht.
Doch an diesem Abend drängt es Mulder (war es Neugier oder reine Gafflust?) ab vom gewohnten Weg, weg zu einem brennenden Haus, einem von Asylanten bewohnten Haus, dessen Tür ständig offen stand und das jetzt in Flammen steht. Feuerwehr und Krankenwagen eilen herbei, versperren sich zeitweise den Weg. Menschen schreien um Hilfe, ein Mann wankt sprungbereit auf dem Dach, Frauen und Kinder hängen sich aus den Fenstern weit ins Freie. Die Scheinwerfer tasten sich suchend über die Stockwerke, und mit ihnen die Augen der Schaulustigen. Und dann taucht hinter einem Fenster plötzlich ein großer Hund auf, er tänzelt auf den Hinterbeinen, will sich nicht auf die ausgefahrene Leiter retten. Der Hund wählt seinen eigenen Weg und springt – direkt in Mulders Arme und Leben.
„Nach dem Brand ging Mulder anders“, schreibt Adriaan van Dis, „seine Schuhe waren durchgeweicht, und die Eisenplättchen unter den Sohlen klangen gedämpfter. Aber das war es nicht, er musste seinen Schritt mäßigen, weil ihn jemand beobachtete. Nicolas Martin.“ Ein Name, aus Verlegenheit der Polizei gegenüber genannt, als er, Mulder, seine Personalien angeben sollte für eine spätere Aussage auf der Wache. Mulder wollte sich raushalten, eigentlich nur seine Ruhe haben, aber mit dieser ist es jetzt vorbei. Der Polizei ist er auffällig, alle im Viertel kennen plötzlich Nicolas Martin, den Mann, den der Hund sich gewählt hat und bei dem „Le Chien“, wie alle ihn nennen, jetzt wohnen wird für eine Zeit, jedenfalls so lange, bis der wahre Besitzer des Hundes gefunden sein wird.
„Nicolas Martin hatte Mulder sichtbar gemacht. Der Hund machte ihn sichtbar. Andermanns Name, andermanns Hund; vorläufig gehörten sie zusammen.“ So einfach ist es, wenn der Zufall, die Liebe zwischen Mensch und Kreatur (oder die Hand des Autors) Regie führen. Und der namenlose Hund, das tapfere Tier, das alle kennen und dessen Pfoten schon, wie Père Bruno berichtet, „über Eis, durch Savannen, über Berge, durch Schlammtümpel, auf den glühenden Wellblechdächern von Flüchtlingsbaracken“ gelaufen sind, folgt seinen neuen Herrn im teuren Zwirn. Der vierbeinige Weltenstreuner geleitet ihn (wer hat da eigentlich wen an der Leine?) zu all den „Unsichtbaren“, die Mulder bis dahin nie wahrgenommen hatte: die „sans papiers“, die Namen- , Ausweis- und Obdachlosen in den Vorstädten und Pariser Hinterhöfen, in den Kellern und verborgenen Parallelwelten dieser schönen Stadt.
Der niederländische Romancier Adriaan van Dis, 1946 geboren, nach dem Studium des Afrikaans zunächst Journalist und Fernsehmoderator mit eigener Sendung („Hier ist ... Adriaan van Dis“), spielt mit doppelten Identitäten, mit Gegensätzen, Antithesen. Mit „Ein feiner Herr und ein armer Hund“ legt der seit 2003 in Paris lebende Autor keinen Betroffenheitsreport vor, auch keine rührselige Geschichte mit einem tierischen Helden als Sympathieträger, sondern ein fein gearbeitetes, mit Leichtigkeit und Eleganz geschriebenes (und von Marlene Müller-Haas hervorragend übersetztes) Gleichnis, das weder Unterschiede negiert noch das stinkende Elend wegwischt, sondern uns Menschen in ihrer Not und Erbärmlichkeit sehen und riechen lässt: den Mann, der aus Müllsäcken isst, die Bettlerin, die geräuschvoll ihre abgeschnallte Beinprothese in die Höhe reckt.
Van Dis’ Kunst und Luxus gewohnter Mulder, „De wandelaar“ (der Spaziergänger), wie der 2007 in den Niederlanden erschienende Roman im Original heißt, spürt sein schlechtes Gewissen. „Du streichelst mich, aber du streichelst auch die dreißig Jacketts in deinem Schrank“, sagen die Augen des Hundes, und Mulder alias Nicolas Martin fragt sich „Was tun?“.
Dieser Sommer wird heiß, sehr heiß in Paris. Farbbomben fliegen, auf den Straßen rotten sich Randalierer zusammen, Wasserwerfer tanken am Fluss. In der Banlieue brennen die Autos, der Müll wird nicht mehr abgeholt, und der kleine Minister (Nicolas Sarkozy) spricht davon, die Vorstädte „mit dem Hochdruckreiniger zu säubern“. Mulder nimmt wahr, „wie gutaussehend der Chinese war, ein feines Gesicht, trotz der gegerbten Haut, ohne jede Linie“. Doch er wird auch Zeuge, wie Rollerkids einen Mann zusammenschlagen, liest am nächsten Morgen in der Zeitung, dass „Claude, 32 Jahre, grundlos getötet“ an den Folgen eines Fußtritts gegen die Schläfe starb. „Tu was.“ Nur was?
Mulder fährt raus in die Betonlabyrinthe der Banlieue, überreicht der Putzfrau Sri Ramdunu, der Witwe eines srilankischen Brandopfers, Geld für die Einäscherung ihres Mannes. Er bezahlt einen gefälschten Pass für Ngolo, den Illegalen aus dem Tschad, der sich bei Père Bruno in einem Turmzimmer versteckt hält, und lässt sich dafür ein mit der albanischen Mafia. Und Mulder und der Hund besuchen, zusammen mit der schönen Sri, das kleine elternlose Mädchen Fanta, das bei dem Brand schwere Verbrennungen erlitt und das den Hund so inniglich liebt.
Der Hund und Mulder schauen bei der Soupe populaire vorbei, wo die Schlange der Wartenden immer länger wird. Der „feine Herr“ fetzt sich mit Père Bruno über Religion, das Gewissen und das Gute, während der „arme Hund“ Tatar frisst und seinem Begleiter immer neue Nachbarn vorstellt. Der Vierbeiner rennt Triple X hinterher, einem blondierten Neger in Basketballklamotten, drei Nummern zu groß, von dem man sagt, er sei vielleicht Fantas Vater (wer ist sich da sicher?). Der Zeitungsausreißer, ein Mann „mit Gedächtnis für die Zukunft“, fischt derweil Nachrichten aus den Müllsäcken, stopft sie in seine Tüten: „Artikel über wachsende Wüsten ... steigende Weltmeere und ausgetrocknete Flüsse, rebellische Bauern und verrückte Mullahs mit Atombomben.“
Mulder weiß, die Tage mit seinem vierbeinigen Freund sind gezählt. Danach gibt es keine Haare mehr auf den Decken, kein Bellen um Brekkies. Der Hund wird zu Fanta gehen, wenn sie im Herbst aus dem Krankenhaus und zu Pflegeeltern kommt. Es war ihr Hund, er hatte sie jeden Tag zur Schule gebracht, ließ sich nur von ihr kämmen und waschen. Fanta gab ihm den Namen „Le Chien“ und sie sah auch, wie er mit brennendem Schwanz durch das Zimmer lief, jaulend. „’Hast du das wirklich gesehen?’, fragte Mulder erschrocken. Ja, der Hund habe mit dem Schwanz eine Kerze umgestoßen.“ Mulders haariger Heiliger, die schuldig-unschuldige Kreatur, trägt wie die kleine Fanta für immer das Feuermal.
Van Dis liefert uns keine endgültigen Antworten auf brennende Fragen, kein Patentrezept, er erzählt, ganz leicht und doch tiefgründig, von einem Wanderer zwischen den Welten und einer wunderbaren Freundschaft auf Zeit. Der abendliche Spaziergänger im flusenfrei gebürsteten Dufflecoat wird wieder allein aufbrechen, er wird die teure Breguet anlegen, Kunstgalerien und Museen besuchen, aber, wir glauben es dem so weltläufigen, verhalten optimistischen Adriaan van Dis, er wird die Kreise seiner alten Runden durchbrechen und neue Gegenden erkunden, Ausschau halten nach Fanta, ihrem Hund, nach Sri, dem Chinesen, nach dem Flüchtigen wie Sichtbar-Unsichtbaren dieser Stadt.
Literaturangabe:
DIS, ADRIAAN VAN: Ein feiner Herr und ein armer Hund. Roman. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Carl Hanser Verlag, München 2009. 238 S., 17,90 Euro.
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