Im nächsten Jahr wird er neunzig, der nach wie vor unermüdlich tätige „Kritikerpapst“ Marcel Reich-Ranicki, (spät) mit Ehren überhäuft, dank des Fernsehens und des „literarischen Quartetts“, des komischsten Literaturzirkus, den es je hierzulande gegeben hat, wurde er bekannt wie ein bunter Hund, mit seinen zahllosen, oft rücksichtslosen, zuweilen in der Ablehnung eines Buches schneidenden Kritiken und dank seiner Machtposition als langjähriger Leiter des Literaturressorts der FAZ, hat er sich unter Literaten Feinde sonder Zahl gemacht und viele gefunden, die seinem Urteil beinah blind vertrauten.
Ausgestattet mit einem beängstigend guten Gedächtnis hat er schließlich mit seiner Autobiografie „Mein Leben“ eben dies erzählt, eine gefährliche Geschichte mit gutem Ausgang: von der Geburt in einer leidlich wohlhabenden Familie in einem polnischen Kaff, seinen Schuljahren in Berlin, seiner und seiner Familie Vertreibung aus Deutschland, den Jahren im Warschauer Getto, der Flucht aus dem Transport „nach Osten“ und dem Leben in einer polnischen Familie, die ihn und seine Frau Teofila vor den Deutschen rettete und von den Nachkriegsjahren des Davongekommenen in Polen – mit Abstechern nach London, später nach Berlin – bis hin zur erneuten Flucht aus dem stalinistisch gewordenen Polen zurück ins Land der Täter (und seiner Jugendjahre), wo er schließlich aufstieg zum maßgeblichen Kritiker in der Bundesrepublik, der sich dort vor allem um deutsche Literatur (und ihren von ihm autoritativ bestimmten „Kanon“) kümmerte und nur selten um die polnische.
Schon einmal, 1994 war er gefragt worden nach seinen „polnischen Jahren“ von 1945-1958, er hat darauf nur zögernde, eher verschleiernde als offene Antworten gegeben und sie in seinen Memoiren wiederholt. Ja, er habe für das Außen- und das Innenministerium gearbeitet, ja, er sei Mitglied der polnischen Kommunistischen Partei gewesen, aber vom Kommunismus habe er sich schon lange vor seiner endgültigen Übersiedlung nach Westen abgewandt. Die Öffentlichkeit war zufrieden, wer wollte schon dem weißen Elefanten der deutschen Literaturkritik am Zeuge flicken, zumal ja die Anwürfe, die seine Arbeit im Judenrat des Warschauer Gettos und später die Tätigkeit als Konsul in London und „Resident“ des polnischen Geheimdienstes aus Archiven stammen, die gerade die staatlichen Stellen freigaben, zu denen er damals gehörte. Die Autoren, die er verrissen hatte, rächten sich, wenn überhaupt (die meisten blieben vorsichtig!) auf ihre literarische Weise, Martin Walser mit einem ganzen (wenig überzeugenden) Roman. Aber Kritik aus Polen?
Nun hat Gerhard Gnauck, (geboren 1964), seit 1999 Korrespondent der WELT in Warschau, diese beschwiegenen polnischen Jahre in einem Buch ausgebreitet. Er stützt sich natürlich auf Reich-Ranickis Autobiografie, aber auch auf zahlreiche Interviews, die er mit Menschen geführt hat, die MRR kannten und kennen, auf Zeitungsartikel von ihm und anderen, auf Bücher über ihn, aber eben auch auf die freigegebenen Akten polnischer Ministerien und des Warschauer Geheimdienstes. Vermutlich hat er fast alles herausgefunden, was möglich war. Es bleiben ein paar dunkle Stellen, die auch er nicht aufhellen konnte. Etwa die Frage, ob der geheime Mitarbeiter der polnischen Staatssicherheit mit dem Decknamen „Platon“, der zwei Monate lang aus London wenig freundliche (und vermutlich wahre) Berichte über Mitarbeiter der polnischen Botschaft nach Warschau geschickt hat, mit Reich-Ranicki zu identifizieren ist. Auch mit seiner Rolle im Judenrat befasst sich Gnauck. Er hat viele kleine Ungenauigkeiten im offiziellen Lebenslauf gefunden, also dem was MRR der Nachwelt überliefern wollte, Schönfärbereien, Auslassungen, Ungereimtheiten, Anzeichen menschlicher Schwäche – aber nichts, was ein in der Tat beeindruckendes Lebenswerk ernsthaft beschädigen könnte.
Gnauck sagt zu Recht, Reich sei im Grunde immer ein Flüchtling geblieben, der gezwungen wurde, sich für das, was er getan hat, zu entschuldigen. Aber er macht auch klar, in welcher Situation sich der eben aus den Fängen der Mörder Entkommene 1945 befand, in einer Zeit, wo es für Literaten keinen Platz gab, wohl aber für Leute mit Organisationstalent und Sprachkenntnissen. Zur Literatur hatte er ein Liebesverhältnis, zum Staat das eines Menschen, der darin leben musste. Nicht nur leben als mittelloser Flüchtling ohne Zukunft, sondern als einer, der sich nicht mehr auf der Seite der Opfer befinden wollte. Das, was man in Israel den „Massada-Komplex“ nennt, dies „Nie wieder!“, es hat seinen Lebenslauf nach der Befreiung bestimmt: seine Kompromisse, seine List und seinen Eigensinn: er wollte über sich selbst bestimmen. Mag sein, dass er auch deshalb in den polnischen und den ersten Jahren in Deutschland seine jüdische Herkunft zwar nie verschwiegen (wie denn auch?), aber nie betont hat. Seine Selbstcharakterisierung er sei „Ein halber Pole, ein halber Deutsche und ein ganzer Jude“ stammt aus einer viel späteren Zeit.
Es ist ihm weithin gelungen, sein Leben und dessen Darstellung zu bestimmen – und Retouchen spielen heute keine Rolle mehr, allenfalls kann man von einem, der es sehr weit gebracht hat sagen: es gibt auch ein paar dunkle Flecken auf der weißen Haut des Dickhäuters. Die sind weder in irgendeiner Weise justiziabel, noch sind sie unerklärlich. Ein Intellektueller hat sich mit beträchtlichem Geschick und (auch) Glück durch die frühen Jahre gehangelt. Dabei hat er seine Fähigkeit, herb zu urteilen und sich Feinde zu machen, wenn es sich denn ergab, bis zur Perfektion entwickelt – auch das ist eine Leistung. Sein Lebenslauf, der offizielle wie der von Gnauck für eine seiner Lebensstationen korrigierte, ist beispielhaft für viele in seiner Lage. Innerhalb dieser mit spürbarer Anteilnahme entwickelten Geschichte des „Flüchtlings“ setzt der Autor einer Figur ein berührendes Denkmal: Reich-Ranickis Frau Teofila, genannt Tosia. Besonders dies, „die Frau an seiner Seite“ derart in ihrer Größe und Würde geschildert zu haben, macht die Lektüre des Buchs lohnend. Dem Text selbst merkt man zuweilen an, dass er vermutlich ursprünglich aus Artikeln bestand, da hätte ein sorgfältigeres Lektorat manches ordnen und verbessern können.
Literaturangabe:
GNAUCK, GERHARD: Wolke und Weide. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre. Klett-Cotta, Stuttgart 2009, 287 S., geb. 23,90 €.
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