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Flucht in eine andere Welt

Herta Müllers Debüt „Niederungen“ erstmals komplett

© Die Berliner Literaturkritik, 05.03.10

Von Nada Weigelt

Bei Herta Müller ist vieles ungewöhnlich. Jetzt bringt die 56 Jahre alte Literaturnobelpreisträgerin erstmals ihr Debütwerk „Niederungen“ in einer kompletten Fassung auf den Markt. Wenige Monate, nachdem sie die höchste Ehre der Literaturwelt erhalten hat, schließt sich damit in ihrem künstlerischen Schaffen ein großer Kreis.

„Niederungen“, eine Sammlung von oft kurzen Prosastücken, erschien 1982 nach einer mehrjährigen Hängepartie im Bukarester Kriterion Verlag nur in einer zensierten Ausgabe. Zwei Jahre später konnte die vom Ceausescu-Regime verfolgte Autorin das Manuskript in den Westen schmuggeln.

Der Berliner Rotbuch Verlag druckte 1984 eine neue Version – die Literaturwelt war elektrisiert. „Ein mitreißendes literarisches Meisterstück“, urteilte der „Spiegel“ damals. Aber auch diese Ausgabe war immer noch gekürzt und blieb Grundlage für spätere Nachdrucke.

Nun hat Herta Müller die vier bisher fehlenden Geschichten wieder eingefügt und die insgesamt 19 Miniaturen wie einst geplant um die 80-seitige Titelgeschichte „Niederungen“ herumgruppiert. Auch sämtliche Streichungen wurden überprüft und zum Teil rückgängig gemacht. Am kommenden Montag (8. März) erscheint im Hanser Verlag diese komplette Fassung.

Trotz der etwa 30 Jahre seit seinem Entstehen hat das Buch nichts von seiner archaischen Kraft eingebüßt. Die Schilderungen aus dem düsteren rumänischen Dorf, in dem die Autorin in einer Gemeinschaft der Banater Schwaben aufwächst, sind so bedrückend und verstörend wie eh und je: Kälte und Gleichgültigkeit, Suff und Gewalt, Inzest und Betrug bestimmen den Alltag. „Alle Dorfleute lebten in einer alten
Zeit, wurden schon alt geboren“, registriert sie.

D
ie Ich-Erzählerin, ein heranwachsendes Mädchen, hält die lose verknüpften Geschichten zusammen. Sie kann sich den seelischen und körperlichen Grausamkeiten nur durch Flucht in eine Fantasiewelt entziehen. Herta Müller gelingt es mit ihrer unvergleichlich poetischen Sprache, die Grenzen zwischen Realität und Traum so zu verwischen, dass die Ebenen wie in der Perspektive des Kindes aufgehoben sind.

Anders als in späteren Werken wie „Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt“ (1986), „Der Fuchs war schon damals der Jäger“ (1992) und zuletzt „Atemschaukel“ (2009) schildert die Autorin nicht konkrete Auswüchse des diktatorischen Regimes – sie zeichnet nur die Menschen, die unter diesem Regime ihre Würde und Selbstachtung verloren haben.

Einen stärker gesellschaftskritischen Charakter haben zumindest drei der vier neu eingefügten Geschichten. „Herr Wultschmann“ etwa erzählt von einem notorischen Besserwisser, der dem Krieg nachtrauert („Damals hat jeder sein Leben noch gelebt“).

Und in den Grotesken „Die Meinung“ und „Inge“ schildert Müller verschlüsselt, wie sie wegen ihrer Absage an eine Mitarbeit beim Geheimdienst Securitate als Dolmetscherin einer Maschinenfabrik entlassen wird und sich erfolglos als Lehrerin bewirbt.

Jahrelang wird die junge Schriftstellerin danach bespitzelt und überwacht, ist Drohungen und Anfeindungen ausgesetzt. 1987 geht Müller nach Deutschland ins Exil. Schreiben sei ihre Möglichkeit gewesen, mit sich selbst fertig zu werden, sagte sie einmal. „Ich reagierte auf die Todesangst mit Lebenshunger. Das war ein Worthunger. Nur der Wortwirbel konnte meinen Zustand fassen.“

 

Literaturnangabe:

MÜLLER, HERTA: Niederungen. Hanser Verlag, München 2010. 176 S., 16,90 €.

 

Weblink: Hanser Verlag

 

 


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