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Flüchtiges Ich, strömende Welt

Stefan Beuses „Alles was du siehst“

© Die Berliner Literaturkritik, 18.08.09

Das zartblaue Cover voller Himmel vermittelt bereits ein Gefühl von Unendlichkeit und so erstaunt es nicht, dass der Klappentext gleich auf drei Erzählstränge einstimmt, die aus verschiedenen Fernen aufeinander zulaufen. Dennoch bleibt es leicht, den Überblick über das Geschehen zu behalten: Dies ist kein Labyrinth, in dem man sich verirrt. Zunächst scheint es sich eher um ein Spiel des Autors mit Fantasy-Requisiten zu handeln: Ein Ghostwriter wird von einem amerikanischen Professor kontaktiert und fliegt in die Staaten, wo er in einem sehr merkwürdigen Haus voll bizarrer Bewohner untergebracht wird. Ein junger Mann namens Ned gibt sein bisheriges Leben auf, um ein Mädchen namens Kasey zu beobachten. Aaron und Lia, ein kindliches Zwillingspaar, fliehen vor den brutalen Eltern in den Wald.

Erzählt werden diese drei Geschichten in kurzen Abschnitten, wie Puzzleteile, die einander durch immer deutlicher werdende Ähnlichkeiten näher kommen. Stefan Beuse verleitet uns zu einer unüblichen Art der Lektüre: Es geht nicht um die schrittweise vollzogene Identifikation mit den Figuren und ihrer Welt. Vielmehr wird auf knappstem Raum eine Fülle von Motiven, Gestalten, Situationen und Ereignissen entfaltet, die sich als Variationen einiger Grundmuster entpuppen.

So wird etwa die Beziehung zwischen Mann und Frau an drei Konstellationen vorgeführt: Vater – Tochter, Liebender – Geliebte, Bruder und Schwester. Immer ist die Frau die Eingeweihte, die Wissende. Sie ist immer schon weiter, sie geht voraus, und sei es in den Tod. Der Mann folgt, weil er als abgespaltene Hälfte nicht existieren kann. Mann und Frau bilden eine Symbiose, die an den von Platon überlieferten Mythos erinnert: Einst waren die Menschen Mann und Frau zugleich, vereint in einem einzigen Körper, und dadurch vollkommen. Neidische Götter befahlen ihre Trennung – seitdem verzehren sich Mann und Frau in der Sehnsucht nach dem anderen. Ohne Kasey an seiner Seite bliebe er immer unvollendet, ein Entwurf, sagt Ned. So will auch Aaron nicht ohne Lia leben, Professor Nunn nicht ohne seine Tochter.

Diese Suche nach der über alles geliebten Person korrespondiert mit einer Gegenströmung, die den Kosmos des Romans sozusagen durchflutet: dass nämlich das eine immer auch verwandt ist mit dem anderen. Die Übergänge sind fließend, alles, was du siehst, ist ineinander verzahnt. Laurabell, die Tochter, hat dieselben Augen, dieselbe Frisur wie die traumtänzerische Kasey; sie ist gleichzeitig die Ertrunkene, zu der der Vater herab will, und diejenige, die von sich selbst sagt, dass sie nicht sterben kann. Ned, der seine Tage damit verbringt, Kasey zu beobachten, trägt einen Neopren-Anzug, auch er ist ein Taucher. Der Ghostwriter vergisst seinen Namen, einmal liest er ihn auf einem für ihn bestimmten Schildchen und entziffert mühsam: Nathan, also Nat, ähnlich Ned … Die Vaterfigur heißt Professor Nunn, lautlich identisch mit „none“ (keiner).

Entindividualisierung wird in diesem Roman nicht als Verlust erfahren, sondern als Möglichkeit, Grenzen zu überschreiten und sich anderen Personen zu nähern. Daher sind die Figuren nicht auf Besonderheit angelegt, vielmehr rücken sie im Verlauf der Erzählung immer mehr zusammen und verwandeln sich einander an, bis sie eins werden. Trennung und Wiederfinden erleben sie im Schwebezustand einer Welt, die keine eindeutigen Grenzen kennt. Zeit- und Realitätsebenen vermischen sich, Orientierungen werden gefunden und wieder verloren, Tod und Leben erscheinen in ständigem, fließendem Wechsel.

Das klingt ziemlich abgehoben, und die reichlich eingestreuten physikalischen und philosophischen Begriffe tun das Ihre dazu. Auch ergeben die Puzzleteile kein lückenloses Ganzes. Manche Motive, manche Aussagen bleiben rätselhaft. Von daher ist es leicht, Einwände gegen das Buch zu finden. Beuse experimentiert mit Konzepten und unterläuft die traditionellen Erwartungen an eine „schöne Geschichte“. Jemand, der ein Buch mit einem zufriedenen „Aha!“ schließen will, wird möglicherweise frustriert.

Aber nicht aufgelöste Rätsel locken bekanntlich mit eigenen Reizen. Lesend bewegen wir uns durch eine Galerie suggestiver und anrührender Bilder, die sich ins Gedächtnis graben: Ned, der im Baum sitzt und zu Kasey spricht, die ihn nicht sieht; die Zwillinge Aaron und Lia im Wald; die tote Lia, die unter dem Eis des Sees unendlich langsam davontreibt; der Schnee, der immerzu durch die Landschaft wirbelt; die Eröffnungssequenz des Herabtauchens in die Tiefe. Wer bereit ist, Gewohntes hinter sich zu lassen und andere Türen zu öffnen, wird sich von solchen Szenen faszinieren lassen und Stefan Beuses Grenzüberschreitungen gern nachvollziehen.

Von Gisela Trahms

Literaturangabe:

BEUSE, STEFAN: Alles was du siehst. Verlag C. H. Beck 2009. 176 S., 17,90 €.

Weblink:

Verlag C. H. Beck


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