MURGIA, MICHELA: Accabadora. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010. 176 S., 17,90 €.
Von Angelo Algieri
Wenn man von der italienischen Insel „Sardinien“ hört, denkt man wohl zuerst an Sandstrände, Weine und Liköre, wie dem Mirto, oder an die prähistorischen Bauten, die Nuraghen – abgeschnittene Turmkegel aus riesigen Steinen. Doch von Sardinien kamen und kommen auch große Schriftsteller, und Sardinien war und ist außerdem Gegenstand literarischer Werke. Denken wir nur an die erste italienische Nobelpreisträgerin, die aus Sardinien stammende Grazia Deledda (1871-1936), mit ihrem berühmten naturalistischen Roman „Schilf im Wind“. Oder denken wir an den Autor Elio Vittorini (1908-1966), der 1936 den Reisebericht „Sardinien, ein Land der Kindheit“ veröffentlichte. Nicht zu vergessen auch der aus Sardinien stammende Gavino Ledda, Jahrgang 1938, der 1975 mit seiner Autobiografie „Padre Padrone“ („Mein Vater, mein Herr“) für Furore sorgte – die Verfilmung dieses Buches wurde 1977 mit der Goldenen Palme in Cannes geehrt.
Gesellt sich zu diesen nun mit Michela Murgia eine weitere großartige Schriftstellerin aus Sardinien? Im Wagenbach Verlag ist dieses Jahr ihr Debütroman „Accabadora“ auf Deutsch erschienen. Michela Murgia, Jahrgang 1972, ist in Cabras auf Sardinien geboren. Sie studierte Theologie und unterrichtet als Religionslehrerin in einer Schule. Nach einem langen Aufenthalt in Mailand, lebt sie nun wieder auf Sardinien.
Unterstützen Sie unser Literaturmagazin: Kaufen Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen - es geht ganz einfach und ist ab 10 Euro portofrei! Vielen Dank!
In ihrem Debüt, das in den 1950er Jahren in dem fiktiven Dorf Soreni auf Sardinien spielt, geht es um die sechsjährige Maria Listru, die von ihrer Mutter an Tzia Bonnaria Urrai übergeben wird. Eine auf Sardinien bis vor kurzem gängige Adoptionspraxis, die fillus de anima bzw. fill'e anima (Kinder der Herzen) genannt wird. Die Autorin selbst ist ein solches „Kind der Herzen“, was sich darin zeigt, dass sie dieses Buch ihrer beiden Mütter widmet. Das besondere dabei ist, dass das Kind an eine Frau übergeben wird, die bisher keine Kinder gebären konnte. Das Kind kann aber jeder Zeit seine leibliche Mutter und Familie sehen.
Diese neue Mutter, Tzia Bonnaria Urrai, hat ein Geheimnis: Sie verschwindet in einigen Nächten und kommt erst in den frühen Morgenstunden zurück. Die kleine Maria kapiert es nicht, bis vier Jahre später der ältere Bruder des gleichaltrigen Andría Bastíu, Nicola, bei einem Unfall sein Bein verliert. Nicola leidet seitdem und sehnt sich nach dem Tod – er bittet Tzia Bonnaria Urrai ihn umzubringen. Denn das Geheimnis von Urrai ist, dass sie als „Accabadora“ die Legitimation hat, Personen, die keine Aussicht auf Leben haben, beim Sterben zu unterstützen – sofern es der Betroffene möchte.
Urrai weigert sich zunächst, da sie bei Nicola keinen Anlass sieht. Denn auch mit einem Bein kann man das Leben meistern. Doch Nicola versucht immer wieder, Urrai umzustimmen. Er argumentiert, dass er mit einem Bein, doch kein Mann sei, dass keine Frau ihn so haben wolle. Immer wenn Urrai auftaucht, verlässt er kurz seine Agonie – andernfalls verweigert er sein Essen, und beteiligt sich an keiner Konversation. Schließlich beschließt Urrai, Nicola mit seinem Einverständnis zu töten. Eines Nachts kommt sie schwarz verkleidet, nimmt ihr Kissen, das sie in einem Korb bei sich trägt und erstickt ihn. Diesen ganzen Vorgang aber beobachtet der kleine Bruder Andría.
Am darauffolgenden Tag kommen Maria und Tzia Bonnaria Urrai, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen. Als Andría und Maria sich im Hinterhof sehen und miteinander sprechen, gesteht er, dass er sie liebt und heiraten möchte. Doch Maria lehnt ab und in seiner Wut sagt Andría, dass Urrai seinen Bruder getötet habe. Daraufhin verlässt Maria die Wohnung der Bastíus. – Das Vertrauensverhältnis zwischen Maria und ihrer Ziehmutter ist seitdem gestört. Es geht sogar soweit, dass Maria Urrai verlässt und mit Hilfe ihrer Lehrerin nach Piemont flieht. Dort kommt sie in Turin bei einer wohlhabenden Familie unter, wo sie für zwei Jahre als Kindermädchen arbeitet. Sie freundet sich mit dem Sohn der Familie an, doch als sie von den Eltern in freundschaftlicher Umarmung auf einem Bett liegend erwischt werden, muss Maria ihre Koffer packen. Nur Tage zuvor hatte sie einen Brief von ihrer Schwester erhalten, dass Urrai einen Schlaganfall hatte.
Nachhause zurückgekehrt pflegt sie die alte Urrai über ein Jahr lang, bis diese ins Koma fällt und stirbt. Doch sie konnte erst dann sterben, als Andría vorbeikam und sie liebevoll streichelte.
Positiv ist anzumerken, dass Murgia diese Adoptionspraxis der fillus de anima thematisiert und die Chancen wie auch die Probleme darstellt, die sich daraus ergeben. Zudem wird das tägliche Dorfleben von vor 60 Jahren geschildert: Das Brotbacken in den frühen Morgenstunden, die Weinlese, das Backen der pabassinos (Rosinenküchlein) und der aranzada (Orangentörtchen) sowie der Zubereitung der culurgiones (sardische Ravioli) und das Schneidern von Hochzeitskleidern. Des Weiteren beschreibt die Autorin sehr treffend, dass es im ländlichen Sardinien damals eine starke Aversion gegenüber der Schule und staatlichen Institutionen gab. Das wird im Roman daran deutlich, dass Andría nur die Grundschule besucht, sowie an seinem Unverständnis, Italienisch zu lernen, da in der Familie und im Dorf Sardisch gesprochen wird. Schön ist auch, dass Murgia an die noch vor 60 Jahren in einigen Dörfern lebenden Accabadoras erinnert und auf dieses erstaunliche Phänomen hinweist. Auch wenn die Existenz der Accabadoras nicht bestätigt ist, gehen Wissenschaftler davon aus, dass die letzte Accabadora im Jahr 1952 in Orgosolo, einem berüchtigten Dorf in den Bergen bei Nuoro, gestorben ist. Es ranken sich um diese Accabadoras viele Legenden und Mythen.
Doch leider versäumt Murgia es, diese zwei Phänomene der fillus de anima und der Accabadoras gescheit zu verbinden. Es scheint so, als ob beide Themen nebeneinander stattfinden und Murgia sich nicht entscheiden kann, welcher Geschichte sie sich annehmen soll. Des Weiteren hat Murgia ihre Figuren nicht im Griff: Sie lässt Maria aufs Festland fliehen, was den Roman unnötig um mehrere Seiten verlängert. Diese Passage hätte kürzer ausfallen oder gestrichen werden können. Sie bringt weder die Handlung noch die Themen entscheidend weiter.
Ärgerlich ist zudem, dass bei dieser Geschichte vieles im Vagen bleibt: Murgia erklärt hier vieles mit der Mystik und dem Aberglauben der Menschen. Auch wenn dies der Lebenswirklichkeit in so manchem Dorf Sardiniens heute noch entspricht, hätte Murgia diese Themen ruhig mit einer Prise Ironie würzen können. Angesichts des Phänomens der Accabadoras hätte man der gegenwärtigen Gesellschaft den Spiegel vorhalten können und damit einen Beitrag zur Diskussion um Sterbehilfe leisten. So aber bleibt der Roman ein folkloristischer, gefälliger Text. Er eckt weder an, noch liefert er einen Diskussionsbeitrag.
Sehr gelungen ist die Übersetzung von Jelika Brandestini. Der Text liest sich sehr flüssig. Zudem werden klugerweise sardische Eigenworte im deutschen Text kursiv stehen gelassen. Die dazugehörige Übersetzung bzw. Bedeutungserklärung findet sich im Anschluss an die Erzählung.
Auch wenn die Darmstädter Jury diesen Roman im April zum „Buch des Monats“ gekürt hat, kann man Michela Murgia (noch) nicht zu den großen sardischen Schriftstellern zählen. Enttäuschte Leser können den Roman jedoch auch als Rezeptbuch für sardische Süßigkeiten, die leckeren pabassinos oder die köstlichen aranzadas, gebrauchen.