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Castorfs erste Tschechow-Inszenierung

Das Stück „Nach Moskau! Nach Moskau“ brachte Zuschauer zum Lachen

© Die Berliner Literaturkritik, 27.05.10

Von Ulf Mauder

MOSKAU (BLK) - Mit seiner Komödie „Nach Moskau! Nach Moskau!“ hat der Berliner Regisseur Frank Castorf die Russen zum Auftakt des Internationalen Tschechow-Festivals gut zum Lachen gebracht. Doch während der vier Stunden hatten sich die Reihen im Mossowjet-Theater in Moskau bei der Weltpremiere deutlich gelichtet. „So eine Länge!“, entfuhr es Festivalchef Waleri Schadrin. Der Russe erhob dennoch bei der Premierenfeier am Dienstagabend (25.5.) gegen Mitternacht nicht nur ein Glas Wodka auf Castorf und dessen Ensemble der Berliner Volksbühne.

Zum 150. Geburtstag des Schriftstellers Anton Tschechow hätten die Festspiele diesmal eine „provokante Auseinandersetzung“ gesucht – und gefunden, sagte der zufriedene Schadrin. Wer bis zum Ende dieses Mixes aus Tschechows „Drei Schwestern“ und „Die Bauern“ blieb, applaudierte ausdauernd. Einige riefen „Bravo!“ und „Spassibo (Danke), Frank!“ Der 58 Jahre alte Intendant der Volksbühne schien selbst bei dem Premierenempfang erleichtert, dass seine überhaupt erste Tschechow-Inszenierung bei den verwöhnten Moskauern ankam.

In seinem Sozialporträt aus der russischen Provinz mit Holzhäusern und Birkenwald beleuchtet Castorf die Unzufriedenheit der Menschen im zaristischen Russland vor der Revolution. Es herrscht Endzeitstimmung mit der Hoffnung auf eine lichte Zukunft. Castorfs Russen eint vor allem die Sehnsucht nach Moskau, der „Mutter aller Städte“. Ob das Bürgertum in „Drei Schwestern“ und das verarmte und verrohte Proletariat in „Die Bauern“ - sie alle wollen ein besseres Leben in der Hauptstadt. Es ist ihr Streben nach Höherem und dem Scheitern, was das Stück wie ein roter Faden zusammenhält.

Dass Castorf dabei die Texte des auch in Deutschland viel gespielten Menschenkenners Tschechow aufbricht, sorgte bei vielen Moskauern, die russischen Untertiteln folgten, für Staunen. Da gibt es etwa ein Zitat seines russischen Lieblings-Schriftstellers Fjodor Dostowjewski: „Das einzige ‚Gottesträger-Volk’ ist das russische Volk.“ Auch der Dramatiker Heiner Müller kommt zu Wort. Und alles spielt sich mit dem bei Castorf üblichen Geschrei - teils auf Russisch und Englisch - und einem überschwänglichen Video-Einsatz ab.

Üppig auch die russische Symbolik: eine rote Fahne, Uniformen, Pelze, Samoware, ein Ofen mit Ikone und tätowierte Köpfe von Lenin und Stalin auf einer Männerbrust. „So frisch und unbefangen mit so viel Humor bekommen wir unseren Tschechow sonst nicht zu sehen“, lobte Zuschauer Andrej Spiridonow, der selbst Theater macht. Viele Festivalgäste beeindruckten besonders die Energie, Ausdauer und Bewegungsstärke der in zwei oder auch drei Rollen spielenden Akteure, darunter Lars Rudolph (Tusenbach) und Kathrin Angerer (Natascha).

Unglaublich, was Castorf aus den Figuren rausholt, wie er jeden Akteur im Lauf das Stücks entwickelt und wie alle auf der Bühne die Nähe zum Publikum halten“, sagte die Studentin Olga. So ist Trystan Pütter in seiner Doppelrolle einmal Andrej, der seine Frau Natascha zum Sex nötigt, einmal Kirjak, ein saufender und prügelnder Rüpel. Doch auch die Szene, in der ein Vater seinen Sohn missbraucht, oder die Szene mit schwulem Verlangen unter Soldaten - sind nur Skizzen zur Illustration der Gewalt in dem Stück „Die Bauern“.

Moskauer Theaterexperten reagierten gespalten. „Meisterhafte Inszenierung, ja, aber zynisch und im Grunde eine entsetzliche Entstellung von Tschechow“, sagte der Moskauer Kulturologe Nikolai Garmisa. Die Kritikerin Marina Dawydowa nannte die Verbindung der beiden Tschechow-Stücke eine „geniale Idee“, die aber nicht zu Ende geführt sei und die Komödie am Ende zerfasern lasse. Castorf sei für sie ein Regisseur, der seine beste Zeit längst hinter sich habe, sich nicht weiter entwickle. „Nur in einigen Szenen ist seine frühere Größe noch erkennbar“, sagte Dawydowa.

„Meine Arbeit ist die Spiegelung einer sozialen Wut“, hatte der als „Stücke-Zertrümmerer“ bekannte Theatermacher in einem Gespräch erklärt. Außer in Moskau will Castorf „Nach Moskau! Nach Moskau!“ auch bei den Wiener Festwochen (Juni) sowie in der Volksbühne (September) aufführen. Bei dem Tschechow-Festival sind bis zum 30. Juli insgesamt 24 internationale Produktionen zu sehen.

Weblinks:

Homepage Festival

Homepage Volksbühne

BLK-Notizblock

Mossowjet-Theater, Bolschaja Sadowaja 16, Moskau, Russland


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