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Frankensteins… Nein: Danielewskis Monster

Mark Z. Danielewski hat mit seinem Debüt-Roman „Das Haus“ ein wahres Monster kreiert

© Die Berliner Literaturkritik, 11.01.08

 

Auf dieses Buch kommen zehn Jahre Entstehungszeit, mehr als 800 Seiten, ein halbes Dutzend unterschiedlicher Schriftbilder, 450 Fußnoten, zwei Druckfarben, ein langes Register, eine Bibliografie, drei große Anhänge, Illustrationen und ein Index. Hinzu gesellt sich ein Text-Layout, das dem englischen Dichter Edward E. Cummings (für seine typographischen Verzerrungen und Überraschungen bekannt) alle Ehre gemacht hätte. Das alles ist nicht unbedingt typisch für einen Debütroman, wie er hier mit Mark Z. Danielewskis „Das Haus“ vorliegt.

Auf den ersten Blick scheint das Buch aus der Feder des amerikanischen Chronisten und Kultautors des Irreseins, David Foster Wallace, zu stammen, der sich dabei zusätzlich H.P. Lovecrafts bedient, um ein literarisches Gegenstück zum Film „The Blair Witch Project“ zu schaffen. Aber nein, es ist ganz allein Danielewskis experimentelles Meisterstück.

In „Das Haus“ stößt ein begabter, aber psychotischer junger Mann, der sich Johnny Truant nennt und als Gehilfe in einem Tätowierladen in L.A. arbeitet, auf ein gewaltiges Manuskript. Er hat es nach dem Tod eines alten Mannes mit Namen Zampano gefunden, der im Apartmenthaus seines Kumpels wohnte. Das Manuskript ist ein wirres Durcheinander, aber Johnny wird unwiderstehlich von ihm angezogen und beginnt, es abzuschreiben und durch Fußnoten zu ergänzen.

„Der Navidson Record“ – so der Titel des Manuskripts – ist Zampanos wissenschaftlich gemeinte Abhandlung eines gleichnamigen Dokumentarfilms von Will Navidson, einem Fotojournalisten und Pulitzerpreisträger. Johnny entdeckt bald, dass es in Wirklichkeit keinen solchen Film gibt. Und selbst wenn es ihn je gab, wäre Zampano nicht in der Lage gewesen, eine derartige Kritik zu schreiben: Denn er war blind.

Jedenfalls ist das Manuskript so fesselnd und unwiderstehlich, dass Johnny seine Zweifel vergisst und immer tiefer in die Ausführungen hineingezogen wird. So tief, dass er mehr und mehr die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion aus den Augen verliert.

Navidsons angeblicher Dokumentarfilm betrifft ein Haus in Virginia, in das er mit seiner Familie zieht. Zuerst scheint alles normal, aber bald zeigen sich eigenwillige Raumveränderungen: Das Haus ist innen ein bisschen breiter als außen. Später erscheint im Inneren auf einmal eine – zuvor nicht vorhandene – Tür in der Außenwand, jedoch ohne äußeres Gegenstück.

Hinter der mysteriösen Tür offenbart sich ein kleiner Flur, schmal, dunkel, ungefähr fünf Meter lang. Doch mit jedem weiteren, vorsichtigen Erkundungsgang scheint er länger zu werden, bis er sich schließlich in ein Labyrinth verwandelt, an dessen Ende sich ein riesengroßer Raum von Schwindel erregender Dimension befindet.

Im Zentrum dieses Raumes führt eine Wendeltreppe in scheinbar endlose Tiefe hinab. Navidson trommelt einen Untersuchungstrupp zusammen, um die eisige, vollkommen lichtlose, leere Welt, die ständig ihre Form und Größe verändert und aus deren Tiefen ein unheimliches Grollen zu hören ist, zu erkunden. Ein scharfkralliges Ungeheuer scheint den Irrgarten zu bewohnen. Vergleiche zum Labyrinth des Minotaurus werden gezogen. Die Berichte von der Erforschung dieses dunklen Abgrunds sind haarsträubend. Die räumliche Unmöglichkeit all dessen und die Todesangst der Protagonisten werden in einer unheilvollen Atmosphäre vereint.

Die räumliche Anordnung wird visuell an den Leser weitergegeben und überträgt linear die Ängste von Navidsons Mannschaft, die ihren Weg verloren hat und nach und nach dem Wahnsinn verfällt. Der Text ahmt den Irrgarten nach: Er wird  b r  e   i    t     e      r   und  zieht sich zusammen, geht in sonderbare Richtungen, bildet Fenster, leere Räume, Krümmungen, kauert sich in Ecken und formt Strudel. Teile des Manuskripts sind <S>durchgestrichen</S> und mit fortlaufenden und ineinander verschachtelten Fußnoten versehen, die zeitweise die Seiten überfüllen. Manchmal muss man das Buch auf den Kopf drehen, einige Seiten vor- und dann wieder einige Seiten rückwärts lesen.

Die Konfusion des Textes überträgt die Verwirrung der Entdecker auf seine Leser. Wie es der englische Original-Titel „The House of Leaves“ treffend bezeichnet, soll dem Leser suggeriert werden, das Buch selbst sei das gefährliche Haus: Ein Haus aus Blättern und Buchseiten, in dem er sich verlieren wird.

Die Fußnoten des Romans nehmen einen besonderen Stellenwert ein. Drei verschiedene „Lektoren“ (erkenntlich an drei unterschiedlichen Schriftarten) arbeiten an dem Bericht. Da ist einmal Zampanos Manuskript. In seinen Fußnoten werden wissenschaftliche Filmkritiken zitiert, über die er sich gleichzeitig lustig macht. Was dabei an Namen und Verlagen echt oder fiktiv ist, wird bunt gemischt und bleibt, sobald man es persönlich nachgoogelt, immer für eine Überraschung gut.

Dann gibt es die Fußnoten Johnny Truants. Er nutzt seine Kommentare, um aus dem eigenen Leben zu erzählen. Dies liest sich als laufender Bericht seines unberechenbaren Lebens und zeigt seinen eigenen psychischen Zerfall. Nach einer alles andere als harmonisch verlaufenden Kindheit und Jugend lebt er in den Tag hinein. Er verliebt sich hoffnungslos in eine Striptease-Tänzerin, konsumiert zu viele Drogen und leidet unter Angst-Attacken, die durch die Arbeit an dem Manuskript und dessen ungeheuerlichem Text zunehmend verstärkt werden.

Allmählich erscheinen Details über Johnnys zweideutige Beziehung zu seiner geistvollen, aber verrückten Mutter – die ihn als Kind beinahe tötete, ihm aber gleichzeitig den Verstand mitgab, den „Navidson Record“ redigieren und bewältigen zu können. Die Briefe an ihren Sohn, geschrieben aus einer Irrenanstalt und im Anhang abgedruckt, sind blendend formuliert und zeugen von unglaublicher Intelligenz.

Zur Krönung (oder vollkommenen Verwirrung) sind Fußnoten eines anonymen Herausgebers, der Truants Randbemerkungen kommentiert, eingestreut.

Das Haus“ überschattet andere berühmte Spukhäuser der Literatur. Danielewski setzt den Leser nicht mitten hinein, sondern hüllt mehrere Lagen Zeugnisse, Fiktionen und Erzähler um dieses Gebäude. Er verknüpft die Furcht erregenden Räume innerhalb des Hauses mit psychologischen Zuständen wie der Platzangst und geht sogar zurück bis zur germanischen Legende von Yggdrasill, dem Weltenbaum: eine große Esche (Ash Tree) im Zentrum des Universums, die Himmel, Erde und ihre neun Welten miteinander verband.

Was bei anderen Autoren nur die gewöhnliche Erzählung über ein spukendes Haus wäre, ist in Danielewskis Fall eine wissenschaftliche Untersuchung der psychologischen Dimensionen des Raums. Der Autor bringt Architektur und Mythos, Filmtheorie und Psychologie ein. Der Roman sieht in seiner Patchwork-Konstruktion wie Frankensteins Monster aus – er lebt!

Besonders hervorzuheben ist die großartige Übersetzung von Christa Schuenke, die (mit Unterstützung von Olaf Schenk) die Lektüre des bockigen, rätselhaften Textes, die Anagramme und die vielen anderen Verschlüsselungen zu einem Lesevergnügen macht.

Gleichwohl wird „Das Haus“ aber sicher auch die bemerkenswerte Reihe der Bücher verlängern, die auf Grund ihrer Komplexität, Verworrenheit, außergewöhnlichen Konzentration und intellektuellen Anstrengung nie vollständig gelesen werden, alsbald im Bücherregal verschwinden und in der Reihe der großen literarischen Irrfahrten einen Ehrenplatz neben Joyces Ulysses finden.

All jene, die die Mühe der harten Lesearbeit auf sich genommen haben, werden mit echtem Grusel und postmoderner Auflösungsfreude belohnt. Das Pseudo-Dokumentarische des Romans lädt zur Mitarbeit ein, zur eigenen Erforschung des fiktiven Phänomens. Danielewski ist mit „Das Haus“ ist ein empfehlenswertes Werk für alle Freunde anspruchsvoller Fantastik und moderner Literatur gelungen.

Und wer richtig hinschaut, wird irgendwo in seinem Leben vielleicht auch solch eine Tür finden, die ins Dunkle führt. Gut, wenn man dann einem Rat aus diesem Roman folgt: „Bleiben Sie nicht stehen, gehen Sie auch nicht langsamer, sondern laufen Sie einfach weiter. Da ist nichts. Seien Sie vorsichtig!“

Von Heike Geilen

Literaturangaben:
DANIELEWSKI, MARK Z.: Das Haus. Roman. Übersetzt aus dem Englischen von Christa Schuenke. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007. 827 S., 29,90 €.

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