Von Sabine Glaubitz
PARIS (BLK) - Erfolgsautor Stéphane Hessel hat den Zeitgeist getroffen. Mit seinem Revolutionsmanifest ist der 93-Jährige so eine Art französischer Robin Hood geworden. Hessel ist kein gefährlicher Wegelagerer wie der Held aus der englischen Sage, auch raubt er keine Reichen und Großkapitalisten aus. Mit seinem knapp 30 Seiten langen Essay ruft er die Weltbürger jedoch zu Protesten auf: Gegen soziale Ungerechtigkeit, Fremdenhass, die Gier der Finanzwelt und die Verletzung der Menschenrechte. Hessel scheint den Nerv der Franzosen getroffen zu haben, deren Unmut gegen die Politik des eigenen Landes stetig zunimmt. Sein Manifest, das schon für drei Euro zu haben ist, verkauft sich wie warme Semmeln.
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„Ich glaube, viele Franzosen haben genug von diesen Pariser Intellektuellen, die sich zu allem äußern, sich aber nicht engagieren“, sagte Sylvie Crossman, eine der Mitbegründerinnen des Verlags „Indigène éditions“ in Montpellier. Dort ist das Heft im vergangenen Herbst erschienen. Genau der richtige Zeitpunkt. Millionen von Franzosen gingen gerade auf die Straße und streikten gegen die Rentenform.
Protest, Empörung, Zivilcourage. Darum geht es Hessel. In seinem Erfolgsessay bezieht er sich auf den Philosophen Jean-Paul Sartre, den er 1939 in Paris kennenlernte. Hessel schreibt: „Jedes Individuum ist als Einzelner verantwortlich, die schlimmste Haltung ist die Gleichgültigkeit“. Den Jugendlichen rät er, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, um Themen zu finden, die ihre Empörung rechtfertigen. Ein Beispiel gibt er ihnen gleich an die Hand: Frankreichs Einwanderungs- und Roma-Politik.
Der 93-Jährige weiß, wovon er redet. 1917 in Berlin geboren, zog er 1925 mit seinem Vater, dem bekannten Schriftsteller Franz Hessel, und seiner Mutter, der Journalistin Helen Grund, von Berlin nach Paris. Aus Protest gegen das Hitler-Regime nahm er 1937 die französische Staatsbürgerschaft an und schloss sich 1941 der Résistance an. Im Juli 1944 wird er verraten und von der Gestapo verhaftet. Er überlebt Terror und Folter im Konzentrationslager Buchenwald und Dora.
Seither hat sich der Autor dem Kampf für Menschenrechte gewidmet. Als französischer Diplomat und als Kommissionssekretär der Vereinten Nationen hat er am Text der 1948 verabschiedeten UN-Menschenrechts-Charta mitgearbeitet. Hessel war für zahlreiche Nichtregierungsorganisationen tätig. Als Botschafter der Organisation „La voix des enfants“ reiste er mehrmals in die palästinensischen Gebiete. Er gehört zu jenen, die die Politik Israels als Demütigung der Palästinenser verurteilen und sie eine Schande und Verletzung der Menschenrechte nennen.
Nun hat seine Kritik an der Politik Israels Widerstand vonseiten jüdischer Verbände ausgelöst. Kürzlich musste eine Konferenz an der Pariser Eliteschule École Normale Supérieure (ENS) abgesagt werden, bei der Hessel eine Kampagne unterstützte, die zum Boykott israelischer Waren aufruft. Schon im vergangenen Herbst hat das Büro für die Wachsamkeit gegen Antisemitismus (BNVCA) in Frankreich Klage gegen Hessel erhoben wegen Aufrufs zur Rassendiskriminierung.