Wer bislang meinte, die höchst verworrene und durchaus immerwährend diskutierte Gestalt Franz Kafkas in ihrer Gänze erfasst zu haben, wurde spätestens seit der Veröffentlichung des ersten Bands der Monumentalbiografie „Kafka – Die Jahre der Entscheidungen“ von Reiner Stach eines Besseren belehrt.
Das literaturtheoretische Schubladendenken ist längst vorüber. Denn heute steht fest: Kafka ist weder Prophet noch Heiliger. Dies ist nur eine Einsicht, die der neu erschienene zweite Band Reiner Stachs, „Kafka – Die Jahre der Erkenntnis“, dokumentiert. Vielmehr ist er der Mensch des Zweifelns, des Heimatlosen, ja des Immer-Suchenden, der unruhig zwischen den Polen der Welt umherirrt, verzweifelt sucht, aber nie finden wird.
In beeindruckend literarischer Prosa lässt Stach in seinem durchaus essayistischen Stil Kafkas umtriebige Welt im Prag des frühen 20. Jahrhunderts lebendig werden und spart dabei jegliche Kategorisierung in vorgefertigte Begriffsschachteln aus. Jedoch nicht zu Ungunsten wissenschaftlicher Faktizität. Obwohl es zweifellos auf Sachlichkeit bedacht ist, erscheint das Werk allerdings eher im Glanze eines Kunstwerks, das stets versucht, wahrhaftig zu machen, was eigentlich Mythos ist. Gleich einer filmischen Bilderschau führt der Autor den Leser szenisch zu jenen Orten, an denen Kafka sein als gescheitert empfundenes Schicksal erfahren hatte.
Sei es der Askanische Hof in München, wo ihm Felice Bauer die Verlobung gekündigt hatte, oder die „Galerie Neue Kunst Hans Glotz“, wo er erstmals und letzten Endes einmalig in seinem Lebensweg eine missverstandene Lesung vor dem Auditorium abgehalten hatte. Nichts führte ihn zur Erfüllung. Sein Fluch lautete gemäß Stach: Selbstverlassenheit. Oder war Kafka sogar selbstzerstörerisch? Oder beides gemeinsam? Stach wagt sich weit hinter die Fassade des großen Schriftstellers der Moderne, auf den doch noch heute kein kategoriales Prädikat so recht passen will.
In Kafka finde die „Katastrophe der Einsamkeit“ jenen „leeren Echoraum“, der in all seinen Werken subtil zum Ausdruck kommt, schreibt Stach. Das Auswegslose zwischen der „Kluft der Lebenswelten“ führe Kafka eben in einen Zustand der „weltfremden, sich selbst verzehrenden Innerlichkeit“. Entfremdet von der Materialschlacht des Ersten Weltkriegs mit all seiner Dekadenz und Destruktionswut, der psychologische Omnipotenz des Vaters, der 50-Stunden-Woche im Büro der Arbeiterunfallversicherung und all der von ihm subjektiv empfundenen Prager Enge spiegelt sich in seinem Dasein nur ein einziger Wunsch: Die Sehsucht nach Liebe.
Das hat Stach erkannt und literarisch brillant umgesetzt. Wie ein Sog reißt er den Leser mit in die bislang wahrscheinlichste Welt Kafkas. Der Leser soll „dieses ganze Fieber, das mir den Kopf Tag und Nacht heizt“, wie Franz Kafka in einem Brief an Felice schrieb, die ständigen Kopfschmerzen nachvollziehen und Kafka als Menschen begreifen, weniger als eingeschachtelten ideologisch-epochalen Vertreter. Weder Expressionist noch Marxist. Weder allein Jude noch allein Surrealist. Er ist der Erzähler, welcher seinen Freunden gern die eigenen Manuskripte vorlas und nachts gequält von der alltäglichen Enge den Geist seiner Genialität zum Tragen kommen ließ.
Indem sich Stach dem umstrittenen Schriftsteller sukzessive und auf ihm zentral erscheinende Lebensmomente fokussiert annähert, wird Franz Kafka als leibhaftige Gestalt erstmals in der deutschen Literaturrezeption entmystifiziert und in seinen menschlichen Konturen klar erkennbar. Zwar ist vieles unklar. Gleichwohl ist die wissenschaftlich profunde Arbeit Stachs als Resultat minuziöser Faktensuche mehr als gelungen. Insbesondere die aufgedeckten Entstehungshintergründe seiner Werke, abgeleitet aus einzelnen biografischen Fragmenten, die überhaupt noch aufzufinden waren, ordnen die Biografie einem literarischen Kontext zu. Das Lückenlose angesichts der Überzahl der Freiräume zu bilden, ist die Kunst dieses Meisterwerks.
Wer wahrhaft erkennen möchte, warum Kafka einst den Krieg als Refugium vor der Prager Beklemmung wählen wollte, und welches Wunder er tatsächlich im Sanatorium in Marienbad erfahren hat, wird bei der Lektüre in den Genuss einer spannenden Reise in die „Imaginationskraft“ aber ebenso der „neurotische[n] Perfektion“ des kafkaesken grotesk-tragischen Gedankenraums entführt.
Am Ende zeigt sich im Panorama der Zeit der ausgehungerte und an Lungentuberkulose erkrankte Kafka in der Erkenntnis des eigenen Scheiterns. Die innere Ruhe und endlich erreichte Heimat im Ich bleibt als vager Traum zurück. Nur das Leiden steht noch als Abglanz. Gleich dem unbefriedigten „Mann vom Lande“, der die Zurückweisung des Türwächters in „Der Prozess“ schmerzlich am Ende seines vom unerbittlichen Warten und Hoffen gezeichneten Lebens ertragen muss, erscheint in Stachs Biografie auch Kafkas einsamer Tod. Eingeengt, verklungen und von der bloßen Existenz regelrecht zermürbt, stirbt dieser große Dichter in der jämmerlichen Erkenntnis, letztlich eben doch nie angekommen zu sein.
Dennoch offenbart sich in der einmaligen Aura des narrativen Stils von Reiner Stach die unwiderrufliche Gewissheit, dass Kafka trotz seines frühen Todes als Inbegriff einer zeitlosen Erzählkunst gelten muss. Denn jenseits seines konventionellen Sprachausdrucks liegt nicht nur die Gefangenschaft, sondern auch ein tiefes, unbewusstes Geheimnis des Menschseins selbst, dessen Ergründung manchem noch lange, vielleicht sogar immer unzugänglich bleiben wird. Reiner Stach ist eine bezaubernde Annäherung an den Kern jenes Rätsels geglückt. Entzaubert hat er Kafkas Universum nicht. Gleichwohl liegt in jedem seiner Worte der reizende Drang, tiefer in den Sog des Prager Autors einzutauchen, um möglicherweise doch Anteil an einer größeren Erkenntnis zu erlangen.
Von Björn Hayer
Literaturangaben:
STACH, REINER: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 728 S., 29,90 €.
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