BERLIN (BLK) – Kaum ein Ereignis hat die Deutschen so bewegt wie der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. Der Bücherherbst 2009 ist ein buntes Spiegelbild der Wendezeit: Mal staatstragend, mal nostalgisch, mal augenzwinkernd feiern Roman- und Sachbuchautoren das historische Jubiläum. Ein Roman, der zu einer ungewöhnlichen Reise in die nicht allzu ferne Vergangenheit einlädt, ist „Freispiel“ von Andreas Platthaus, der jetzt bei Rowohlt Berlin erschienen ist.
In „Freispiel“ fährt eine Gruppe Jugendlicher aus dem tiefsten Westen nach Berlin, um dort die Silvesternacht 1989/90 zu feiern. Mit ein Paar Flaschen Champagner im Gepäck wollen sie im Osten Brüderschaft trinken. Der Ausflug in ein „fremdes“ Land, die Begegnung mit DDR-Bürgern und ihr gemeinsamer Weg gen Westen zeigen, dass die deutsch-deutsche Einheit wohl kaum innerhalb einer Nacht zu verwirklichen ist. „Jokers“ traf Andreas Platthaus, der als Feuilleton-Redakteur für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ arbeitet, zu einem Gespräch in Berlin. Seine Lieblingsautoren sind Marcel Proust und der Verfasser der Donald-Duck-Geschichten Carl Barks – Platthaus ist bekennender „Donaldist“.
BLK: Herr Platthaus, nach einigen Sachbüchern haben Sie nun Ihren ersten Roman „Freispiel“ veröffentlicht. Wie kam es dazu?
Andreas Platthaus: Das war eine Idee, die ich schon sehr lange hatte. Das Problem war jedoch, dass mir der entscheidende Dreh gefehlt hat, um wirklich einen Roman zu schreiben. Auf den Dreh bin ich dann vor zwei Jahren gekommen, und im vergangenen Jahr hatte ich auch endlich genug Zeit, um es zu probieren – und es ist dann, finde ich, für die lange Wartezeit auch sehr gut gelaufen. Das war der Grund, aber dass ich die Geschichte erzählen wollte, das war mir im Prinzip schon sehr lange klar.
Warum wollten Sie diese Geschichte erzählen?
Weil ich sie einfach gut fand. Die Grundidee ist fast so alt wie die Zeitspanne, die seit dem Handlungsgeschehen vergangen ist, also knapp 18 Jahre – und ihr Ursprung ist übrigens mit einem kleinen persönlichen Erlebnis verknüpft. Das heißt, über den Grundzug der Handlung und ihren Verlauf war ich mir die ganze Zeit im Klaren – problematisch war nur die Erzählhaltung, und das hat dann eben etwas länger gedauert. Letztendlich entschied ich mich für eine Ich-Erzählerin. Das war in der Tat der Dreh, auf den ich, so simpel er auch ist, nicht gekommen bin. So hatte ich die große Hoffnung, mir damit zumindest die ganz intensive Vermutung zu ersparen, dass der Roman rein autobiographisch geschrieben ist.
Sie haben eben ein ‚kleines persönliches Erlebnis’ erwähnt, das dem Romangeschehen zu Grunde liegt. Was für ein Erlebnis war das?
Ich war Silvester 1989/90 tatsächlich in Berlin. Allerdings sind meine persönlichen Erlebnisse dann ganz anders verlaufen, als ich sie in meinem Roman schildere. Viel langweiliger, aber auch weniger deprimierend und nicht so belastend wie bei den Figuren, von denen ich in meinem Roman erzähle. Der Zeitablauf war ungefähr genauso: also auch eine Rückkehr am frühen Morgen nach einer Nacht, in der ziemlich viel schief gelaufen war. Denn meine Erlebnisse entsprachen überhaupt nicht meinen Erwartungen. Ich war doch völlig naiv nach Berlin gekommen und dachte: Ah, hier wird man jetzt was Großartiges erleben! Aber im Endeffekt habe ich dann sehr wenig Großartiges erlebt.
Sie sprechen die Naivität an, mit der Sie nach Berlin kamen. Wer Ihren Roman liest, hat den Eindruck, dass die Figuren mit der gleichen naiven Haltung zu kämpfen haben. Da gibt es zum Beispiel Tommy, der mit ein paar Champagnerflaschen nach Berlin reist und meint, er könne jetzt mit allen Brüderschaft trinken, oder Stepan, der denkt, er treffe auf einen verheißungsvollen Idealstaat. Täuscht dieser Eindruck?
Das Interessante für mich war eben genau die Rekonstruktion dieser seltsamen naiven Haltung, von der ich mal unterstelle, dass ich sie damals genauso hatte wie die Figuren im Roman. Obwohl das im Nachhinein sehr schwer zu rekonstruieren ist, denke ich. Ganz bewusst habe ich Tommy, Stepan und die anderen Figuren aus dem äußersten Westen der Bundesrepublik kommen lassen, weil ich wollte, dass sie keine Ahnung von dem haben, was wirklich passiert. Die leben einfach als Anfang-Zwanzigjährige mit dem Wissen, was man in Westdeutschland über die Tagesschau, den Geschichtsunterricht und über Freunde, die vielleicht Verwandte in der DDR hatten, so mitbekommen hat. Mit all diesem seltsamen ideologischen Gepäck kommen die in Berlin an und erwarten, dass die Welt sich ganz simpel auflösen und alles total schnell ganz anders werden wird. Natürlich ist erstmal überhaupt nichts anders geworden.
Diese Naivität kann den Leser bisweilen sogar reizen. Wollten Sie diesen Effekt erzielen?
Unbedingt. Eine der ersten Leserinnen des Romans hat mir nachher gesagt: „Das sind ja alles eigentlich Monster, die da auflaufen.“ Und ja, in gewisser Weise stimmt das. Das Problem ist allerdings, dass es in dieser Zeit erstaunlich viele Monster gab. Einfach deshalb, weil es keine Möglichkeit gab, sich über die Medien objektive Informationen über die DDR zu verschaffen. Das war ein ideologisch unglaublich aufgeheiztes Klima damals.
Wie war die Jugend in den 80er Jahren und wie spiegelt sie sich in ihren Romanfiguren?
Es ist nicht falsch, wenn man da von einem hedonistischen Jahrzehnt spricht. Da konnte man viel mehr aus dem eigenen Charakter machen als das heute der Fall ist – im positiven wie im negativen Sinne. Das war möglich, weil man überhaupt nicht in Zweifel zog, für was man sich selber entschieden hatte.
Wir treffen uns heute am Roseneck im alten West-Berlin. Im Buch lebt hier der Onkel der Ich-Erzählerin. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit diesem Ort?
Eine Wohnung, die mich sehr fasziniert hat, die für mich immer der Inbegriff dessen war, was West-Berlin ausgemacht hat. Diese Stadt war eine seltsame Insel, wo man eigentlich nirgendwo hin konnte und wo alle Leute – zumindest die Leute, die ich kannte – todunglücklich waren und sagten: Es ist furchtbar, wir kommen aus dieser Stadt nicht raus. Aber klar, es gab auch gute Gründe, um hier zu leben, zum Beispiel berufliche Perspektiven oder Bundeswehr vermeiden. Aber im Endeffekt habe ich in den 80er Jahren in West-Berlin – und wirklich nur hier – eine Welt kennen gelernt, die so seltsam anders war als alles, was ich aus Westdeutschland kannte. Es gab unglaublich großzügige und spottbillige Wohnungen. Da konnten sich alleinstehende Leute Wohnungen von 300qm leisten und darin ein Leben führen, was für mich etwas geradezu gespenstisch Luxuriöses hatte. Und das war für einen Teenager wie mich einfach ungeheuer faszinierend.
Und die Wohnung am Roseneck ist so ein faszinierender Ort?
Ja, sie ist mit einer extrem eigenen Art der Romantik besetzt. Es hat mich ungeheuer gereizt, Phänomene, die für mein Leben und mein Verständnis dessen, was Bürgerlichkeit bedeuten kann, mit all ihren Abgründen und Vorzügen noch einmal heraufzubeschwören. Denn, ich fürchte, das gibt es heute nicht mehr. Auch brauchte ich diese Wohnung als Gegenmodell zur Wohnung im Osten, um die völlige Desillusionierung der Ostdeutschen, die nach Westberlin mitkommen, zu schildern. Sie stellen dann fest: All das, was wir an Klischeevorstellungen vom Westen hatten, weil es uns vom Westfernsehen so vermittelt wurde, es ist leider Gottes genauso – es ist wirklich so reich und so grundsätzlich überlegen im Westen. Ich meine jetzt natürlich nur materielle Aspekte.
Warum haben Sie gerade in diesem Herbst einen Wenderoman veröffentlicht?
Weil das nun unglücklicherweise die Geschichte ist, die ich seit über 18 Jahren im Kopf habe. Was mich ein bisschen vergrätzt, ist die Tatsache, dass ich den Roman nicht früher geschrieben habe. Denn ich finde es auch ein bisschen lächerlich, ausgerechnet zum zwanzigsten Jahrestag damit rauszukommen. Andererseits sagt mein sehr kluger Verlag, wenn du jetzt noch mal damit wartest, dann sieht es so aus, als hättest du den Termin verpasst, das ist noch peinlicher. Also musste es halt dieses Jahr sein. Mein Ideal wäre es gewesen, das Buch so vor zwei Jahren zu veröffentlichen, aber dann hätte es wiederum mit Uwe Tellkamps „Der Turm“ konkurrieren müssen, und das wäre ein verdammt ungleicher Kampf geworden – also den hätte ich mit Pauken und Trompeten verloren!
Vielleicht erreichen sie aber gerade so eine größere Leserschaft.
Das ist schwer zu beurteilen, finde ich. Denn es kann natürlich auch schnell eine Übersättigung eintreten. Erstaunlich ist jedoch, dass gerade in der Belletristik nicht so wahnsinnig viel dazu erschienen ist. Aber das zeigt vielleicht nur, dass andere Autoren viel klüger sind als ich und ihre Sachen einfach schneller oder zu interessanteren Terminen hinbekommen. Ich sehe natürlich hocherfreut, mit was für spannenden Titeln wir es diesen Herbst zu tun haben, vor allem im Sachbuchbereich – und wenn damit ein allgemeines Interesse an den letzten Tagen der DDR erzeugt wird, dann kann das meinem Roman auf gar keinen Fall schaden.
Wen, glauben Sie, können sie zu ihrem Lesepublikum zählen?
Sagen wir, es ist ein Buch für Leute, die irgendwo in ihren Zwanzigern sind, oder zumindest stell ich mir das als eine ideale Leserschaft vor. Ich hätte aber auch nichts dagegen, wenn all die nostalgischen Vierzigjährigen, die heute ihr 80er-Revival so begeistert feiern, auch noch mal da rein lesen wollen. Kann ja dem Buch nur nutzen, wenn die daran Freunde haben – umso schöner. Aber klar, mich interessiert vielmehr eine verlorene Epoche wiederaufleben zu lassen, zumindest an einem einzigen Tag.
Denken Sie, dass der Leser aus Ihrem Roman etwas lernen kann?
Aus meinem Roman lernt man nicht rasend viel über die DDR, das muss man fairer Weise sagen. Man lernt im besten Falle etwas darüber, wie die DDR-Bürger in dieser schwierigen Situation mit ihrer eigenen Unsicherheit umgegangen sind und vielleicht auch, welche Gedanken sie dabei bewegten. Aber das ist schwer zu sagen, da bin ich mir viel unsicherer als bei der Ich-Erzählerin.
Herr Platthaus, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Das Gespräch führte Carolin Beutel.