Werbung

Werbung

Werbung

Für eine gerechtere Welt

Ein Leben, bewegender als ein Roman

© Die Berliner Literaturkritik, 17.10.11

MÜNCHEN (BLK) – Im KailashVerlag ist im September 2011 die Biografie der afghanischen Autorin Fausia Kufi inter dem Titel „Nur eine Tochter“ erschienen. Anne Emmert hat es ins Deutsche übertragen.

Klappentext: „ES IST NUR EINE TOCHTER“, heißt es bei Fausia Kufis Geburt. Sie ist eines von 23 Kindern, die ihr Vater mit sieben Frauen gezeugt hat. Das ungewollte Baby wird ausgesetzt, um unter der sengenden Sonne in einer der wildesten Berggegenden Afghanistans zu sterben. Doch Fausia überlebt – ebenso wie sie andere bedrohliche Situationen überleben wird. Als ihr Vater von Mudschahedin getötet wird und die Familie in Ungnade fällt, suchen die Kufis Zuflucht in Kabul – nur um sich hier vor den Taliban schützen zu müssen, die an Macht gewinnen. Doch weder durch die Burka noch durch Repressalien lässt sich Fausia in ihrem Traum von Freiheit beirren. Als einziges Mädchen in ihrer Familie besucht sie die Schule, später die Universität. Sie heiratet einen Mann, den sie liebt, und bringt zwei Töchter zur Welt. Als ihr Mann an den Folgen der Folter stirbt, wagt Fausia das Unvorstellbare: Sie geht als Frau in die Politik. 2005 wird sie ins Parlament gewählt und setzt sich seither unermüdlich für die Rechte von Kindern und Frauen ein. Doch dieses Leben verlangt Opfer: Vor jeder Reise schreibt sie einen Brief an ihre Töchter Schuhra und Schaharasad, denn sie weiß nicht, ob sie zurückkehren wird. „Nur eine Tochter“ erzählt von einem Schicksal, das inspiriert und ermutigt. „Verliert niemals euren Mut zu träumen“ – diese Botschaft Fausias an ihre Töchter richtet sich an uns alle.

Fausia Kufi wurde 1975 in Badachschan, einer Provinz im Nordosten Afghanistans, geboren. Sie studierte Medizin und arbeitete als Beauftragte für Kinder- und Frauenrechte für die UNICEF und andere soziale Organisationen. Seit 2005 ist sie Mitglied des afghanischen Parlaments und nahm an mehreren internationalen Debatten zur politischen Lage Afghanistans teil. Sie gilt als aussichtsreichste Kandidatin für die Präsidentschaftswahl 2014..

Leseprobe:

©Kailash Verlag©

Nur eine Tochter

1975

Schon am Tag meiner Geburt sollte ich eigentlich sterben.

  In den fünfunddreißig Jahren meines Lebens habe ich dem Tod unzählige Male ins Auge gesehen, und doch lebe ich noch. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber ich weiß, dass Gott etwas mit mir vorhat. Vielleicht soll ich mein Land lenken und aus dem Abgrund der Korruption und der Gewalt herausführen. Vielleicht soll ich auch einfach meinen Töchtern eine gute Mutter sein.

  Ich war das neunzehnte von insgesamt dreiundzwanzig Kindern meines Vaters und meiner Mutter letztes Kind. Sie war die zweite Frau meines Vaters. Als sie mit mir schwanger wurde, war sie entkräft et von den sieben Kindern, die sie schon geboren hatte. Zudem war sie unglücklich, weil sie die Liebe meines Vaters an seine neueste und jüngste Frau, seine siebte, verloren hatte. Sie wollte, dass ich sterbe.

  Ich kam draußen auf den Viehweiden zur Welt. In den Sommermonaten unternahmen meine Mutter und eine Schar von Helfern mit den Rindern und Schafen die jährliche Reise zu den Weidegründen oben in den Bergen, wo das Gras süßer und saftiger ist. Das bot ihr die Gelegenheit, dem Haus für ein paar Wochen zu entfliehen. Sie übernahm die Verantwortung für die gesamte Unternehmung und packte genügend getrocknete Früchte, Gemüse, Reis und Öl ein, um die kleine Reisegruppe für drei Monate – oder so lange sie eben weg war – zu ernähren. Die Vorbereitungen und das Packen waren immer eine aufregende Sache, denn alles musste bis ins Kleinste geplant werden, ehe sich der Konvoi aus Pferden und Eseln zu den Bergpässen aufmachte, um höher gelegene Weidegründe aufzusuchen.

  Meine Mutter liebte diese Wanderungen, und wenn sie durch die Dörfer ritt, war ihr die Freude darüber, vorübergehend von den Fesseln des Hauses und der Hausarbeit befreit zu sein und frische Bergluft zu atmen, anzusehen. Einer in meiner Heimat üblichen Redensart zufolge sieht eine Frau auf dem Rücken eines Pferdes in ihrer Burka umso hübscher aus, je mehr Tatkraft und Leidenschaft sie in sich hat. Damals hieß es, niemand sei auf dem Pferderücken schöner als meine Mutter. Es lag an ihrer Haltung, ihrem würdevollen und aufrechten Sitz.

  Doch 1975, im Jahr meiner Geburt, war sie nicht in feierlicher Stimmung. Dreizehn Monate zuvor hatte sie an den großen gelben Toren unseres hooli gestanden, eines ausladenden einstöckigen Lehmhauses, und die Hochzeitsgesellschaft beobachtet, die sich über den Bergpfad in unser Dorf geschlängelt hatte. Mein Vater hatte beschlossen, eine siebte Frau zu nehmen. Sie war damals erst vierzehn Jahre alt.

Unterstützen Sie unsere Redaktion, indem Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen kaufen! Es geht ganz einfach und ist ab 10 Euro versandkostenfrei. Vielen Dank!

  Jedes Mal, wenn er wieder heiratete, war meine Mutter am Boden zerstört – obwohl mein Vater immer scherzhaft darauf hinwies, meine Mutter werde mit jeder neuen Ehefrau noch schöner. Von all seinen Frauen schätzte mein Vater meine Mutter – Bibidschan (wörtlich übersetzt „Schöne Liebenswerte“) – am meisten. Doch in der dörflichen Bergkultur meiner Eltern waren Liebe und Ehe nur selten gleichbedeutend. Die Ehe diente der Familie, der Tradition und der Kultur, und diesen Genüge zu tun galt mehr als das Glück des Einzelnen. Liebe war etwas, das niemand erwartete oder brauchte. Sie machte nichts als Ärger. Glück, so meinte man, bestehe darin, dass man seine Pflicht tat, ohne zu fragen. Und mein Vater war der festen Überzeugung, dass ein Mann seines Ansehens und seiner Stellung die Pflicht hatte, mehr als eine Frau zu heiraten.

  Meine Mutter hatte also auf der großen Steinterrasse gestanden, verborgen hinter den Toren des hooli, als die mehr als zehn berittenen Männer den Berg herabkamen, mein Vater in seinem prächtigsten weißen Salwar Kamiz, einem langen Hemd über weiter Hose, sowie einer braunen Weste und einer Lammfellkappe. Seinem Schimmel, an dessen kunstvoll verziertem Zaumzeug leuchtend rosafarbene, grüne und rote Wolltroddeln baumelten, folgten mehrere kleinere Pferde mit der Braut und ihren weiblichen Verwandten, die eine weiße Burka trugen. Die anderen Frauen begleiteten die Braut in ihr neues Heim, das sie mit meiner Mutter und den anderen Ehefrauen meines Vaters teilen würde. Mein Vater, ein kleiner Mann mit eng stehenden Augen und einem gepfl egtem Bart, lächelte liebenswürdig und schüttelte den Dorfb ewohnern, die gekommen waren, ihn zu grüßen und das Spektakel zu beobachten, die Hände. Sie riefen einander zu: »Wakil Abdul Rahman ist da, Wakil Abdul Rahman ist zu Hause!« Mit seiner überaus hübschen neuen Frau. Die Leute mochten ihn sehr und hatten nichts anderes von ihm erwartetet.

  Mein Vater Wakil (Abgeordneter) Abdul Rahman war Mitglied des afghanischen Parlaments. Er repräsentierte das Volk von Badachschan, wie ich es heute auch tue. Ehe mein Vater und ich Parlamentsmitglieder wurden, war schon der Vater meines Vaters Asamschah Dorfführer und Stammesältester gewesen. Seit jeher war es in meiner Familie Tradition, sich in der Kommunalpolitik und im Dienst an der Öffentlichkeit einzusetzen.Man kann also sagen, dass die Politik nicht minder durch meine Adern fließt als die Bergbäche und die Flüsse in den Tälern Badachschans.

  Die Distrikte Darwas und Kuf, aus dem meine Familie stammt und von dem sich auch mein Nachname ableitet, sind so bergig und abgelegen, dass man mit einem Allradfahrzeug noch heute bis zu drei Tage in die Provinzhauptstadt Faisabad unterwegs ist – und das ist die Fahrzeit bei gutem Wetter. Im Winter sind die schmalen Bergpässe komplett geschlossen.

  Mein Großvater hatte die Aufgabe, den Menschen in sozialen Fragen und bei praktischen Problemen zu helfen, den Kontakt zu den Behörden der Zentralregierung in der Provinzhauptstadt Faisabad herzustellen und in Zusammenarbeit mit dem Distriktverwalter der Provinz die staatlichen Dienstleistungen und die Infrastruktur zu verbessern. Mit den staatlichen Behörden in Faisabad konnte er von zu Hause aus, im Bergdistrikt Darwas, nur in Verbindung treten, indem er auf dem Rücken eines Pferdes oder Esels eine sieben bis zehn Tage lange Reise unternahm. Er benutzte sein Leben lang kein Flugzeug oder Auto. Mein Großvater war selbstverständlich nicht der Einzige, der so mühevoll reiste. Die Dorfbewohner gelangten nur zu Fuß oder mit dem Pferd in die größeren Städte. So kauft en die Bauern ihr Saatgut, so brachten sie ihre Rinder zum Markt, so kamen Kranke ins Krankenhaus, und so statteten sich Familienangehörige, die durch Heirat getrennt worden waren, gegenseitig einen Besuch ab. Solche Reisen waren nur im warmen Frühling und in den Sommermonaten möglich, und auch dann waren sie mit großen Gefahren verbunden.

  Das größte Risiko stellte die Überquerung des Atanga dar. Der Atanga ist ein hoher Berg, der an den Fluss Amudarja grenzt. Dieser klare grüne Wasserweg liegt auf der Grenze zwischen Afghanistan und Tadschikistan und ist ebenso gefährlich wie schön. Im Frühling, wenn der Schnee schmilzt und der Regen einsetzt, schwillt der Fluss an und bildet eine Vielzahl tödlicher Stromschnellen. Der Passweg über den Atanga bestand zu Zeiten meines Großvaters aus einer Reihe schlichter Holzstufen, die zu beiden Seiten des Berges angebracht worden waren, damit die Menschen leichter auf der einen Seite hinauf und auf der anderen hinunter klettern konnten.

  Doch die Stufen waren schmal, wacklig und rutschig. Ein falscher Schritt, und der Wanderer fi el direkt in den Fluss, dessen Strömung ihn in den sicheren Tod riss. Man stelle sich vor, wie die Menschen erschöpft von einer siebentägigen Wanderung mit den Einkäufen, die sie in Faisabad erstanden hatten, zurückkehrten. Beladen waren sie mit einem Siebenkilosack Reis, mit Salz oder Öl, wertvoller Fracht also, von der die Familie den ganzen Winter leben musste. Und nun mussten sie es noch mit einem lebensgefährlichen Pass aufnehmen, an dem schon viele Freunde und Verwandte ihr Leben verloren hatten.

  Mein Großvater konnte es nicht mit ansehen, wie seine Leute Jahr für Jahr dort umkamen. Er setzte alle Hebel in Bewegung, damit die Regierung eine richtige Straße baute. Doch obwohl er reicher war als die meisten Menschen in Badachschan, war er doch nicht mehr als ein Kommunalpolitiker aus einem entlegenen Bergdorf. Er konnte gerade noch nach Faisabad reisen, um sein Anliegen vorzubringen, doch für eine Reise nach Kabul, wo der König und die Zentralregierung angesiedelt waren, fehlten ihm Mittel und Macht.

  Da er wusste, dass sich zeit seines Lebens keine Veränderung einstellen würde, beschloss mein Großvater, dass sein jüngster Sohn sein Engagement fortsetzen sollte. Mein Vater war noch ein kleiner Junge, als mein Großvater ihn auf seine Aufgabe in der Politik vorzubereiten begann. Sehr viel später, nach Jahren massiver Lobbyarbeit, war es einer der größten Erfolge meines Vaters im Parlament, dass er den Traum meines Großvaters wahr machte und den Bau einer Passstraße über den Atanga durchsetzte.

  Um diese Straße und die Audienz meines Vaters bei König Sahir Schah, mit dem er das Projekt besprach, rankt sich eine berühmte Familienanekdote. Mein Vater stand vor dem König und sagte: „Schah Sahib, der Bau dieser Straße ist seit Jahren geplant, doch es geschieht nichts – Sie und Ihre Regierung planen und reden, aber Sie halten Ihre Versprechen nicht.“ Obwohl das Parlament damals aus gewählten Volksvertretern bestand, führten noch immer der König und seine Höflinge das Land. Unverhohlene Kritik am König gab es selten. Wer sie doch vorbrachte, musste entweder mutig oder tollkühn sein. Der König nahm die Brille ab und sah meinen Vater lange und durchdringend an, ehe er mit ernster Miene feststellte: „Wakil Sahib (Herr Abgeordneter), Sie sollten nicht vergessen, dass Sie sich in meinem Palast befinden.“

  Mein Vater bekam es mit der Angst und fragte sich, ob er wohl zu weit gegangen war. Eilig verließ er den Palast, wobei er auf dem Weg nach draußen auf Schritt und Tritt befürchtet, verhaft et zu werden. Doch einen Monat später schickte der König den für öffentliche Bauarbeiten zuständigen Minister nach Badachschan, wo er gemeinsam mit meinem Vater Pläne für den Straßenbau ausarbeiten sollte. Der Minister traf ein, sah sich den Berg kurz an und erklärte, die Aufgabe sei unlösbar. Mehr sei dazu nicht zu sagen, und er werde sofort nach Kabul zurückkehren. Mein Vater nickte bedächtig, bat ihn jedoch, vorher noch einen Ausritt mit ihm zu unternehmen. Der Mann willigte ein, und sie ritten hinauf auf den Pass. Als sie Halt machten und absaßen, schnappte sich mein Vater das Pferd des Ministers und eilte, beide Pferde im Schlepptau, den Berg wieder hinunter. Den Minister ließ er die ganze Nacht allein oben auf dem Berg, damit er eine Vorstellung davon bekam, wie es für die Dorfbewohner war, wenn sie auf dem Pass festsaßen.

©Kailash Verlag©

Literaturangabe:

KUFI, FAUSIA: Nur eine Tochter. Eine Frau verändert Afghanistan. Aus dem Englischen von Anne Emmert. Kailash Verlag, München 2011. 352 S., 19,99 €.

Weblink:

Kailash Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: