Werbung

Werbung

Werbung

„Gefiolierte blüte kunst“

Deutsche Lyrik des späten Mittelalters

© Die Berliner Literaturkritik, 10.09.10

Von Tobias Roth

Spätmittelalterliche Dichtung liegt am Beginn eines wenn schon nicht blinden, so doch sehr stark verschatteten Bereichs der (öffentlichen) Aufmerksamkeit. Nach Walter, Hartmann und Wolfram ist kaum mehr etwas bekannt, nach des Minnesangs Frühling endet der Kanon, ohne die anderen Jahreszeiten eines Blickes oder einer großen Anthologie zu würdigen. Diese Lücke versucht der Band „Deutsche Lyrik des späten Mittelalters“ zu schließen, den Burghart Wachinger im Deutschen Klassiker Verlag herausgegeben hat: ein umfangreiches, zweisprachiges (Wachinger hat auch die Übersetzungen aus dem Mittelhochdeutschen besorgt) und reichhaltig kommentiertes Buch, mit einem Zug zum Standardwerk, das nun auch als erschwingliche Taschenbuchausgabe erschienen ist.

In 28 Kapiteln, die einzelnen Autoren oder anonymen Oeuvres entsprechen, wird ein Querschnitt aus dem Zeitraum von etwa 1230 bis 1330 geboten. Jede Autorenvita und jedes Gedicht im Einzelnen wird mit Sorgfalt kommentiert, und der reichhaltige Apparat hält weiterem Studium alle erdenklichen Türen offen. Zugleich ist diese Taschenbuchausgabe eindeutig eine Leseausgabe, ohne die lähmende Ausstrahlung, die manch fünfzigbändiger, kritisch-historischer Gesamtausgabe eigen ist.

Obwohl meine Behauptung lautete, dass es sich um unbekannte Dichter handelt, die hier zugänglich gemacht werden, kann man doch von mehr und weniger bekannten sprechen. Unter die berühmteren, die noch durchaus klangvolle Namen besitzen und diesen der einen oder anderen Straße leihen, zählen etwa Neidhart, der Tannhäuser, Konrad von Würzburg, Heinrich Frauenlob und Oswald von Wolkenstein. Wie es aber um die Verbreitung ihrer Gedichte steht, ist gerade hier wohl eine andere Geschichte als die Verbreitung des Namens. Mit Dichtern aber wie dem Wilden Alexander, Heinrich von Mügeln und Steinmar, mit Ausschnitten aus dem „Frauendienst“ des Ulrich von Lichtenstein oder aus dem kleinen, spärlich unter dem Namen „Der Kol von Niunzen“ überlieferten Werk bietet Wachinger eine Auswahl auch vom Rande des Kanons.

In repräsentativer Auswahl wird die Vielfalt jedes Autors wie der Epoche insgesamt aufgefaltet; das Spektrum reicht von knackigen Sangspruchstrophen bis hin zu großen Formen wie Konrads erstem „Minneleich“ oder Frauenlobs gigantischem „Marienleich“. Der Band hält sich aber in der Balance, mit tausend Seiten (gut zur Hälfte Kommentar) ist er noch nicht zu dick, ist er noch nicht der reine philologische Exotismus.

Was da geboten wird, ist eine Lyrik der artistischen Virtuosität, des Übergangs. Die Konstellationen der Hohen Minne sind in einem kombinatorischen Spiel entfesselt und werden, hauptsächlich in der Tradition Neidharts, geerdet. Bei aller Virtuosität ist es dennoch mittelalterliche Dichtung, und man wagt es kaum, diese volkssprachigen deutschen Dichtungen im internationalen Vergleich zu sehen. Der letzte Dichter der chronologisch geordneten Zusammenstellung, Oswald von Wolkenstein, wurde Ende der 1370er-Jahre geboren: Da waren Petrarca und Boccaccio gerade gestorben. (In diesem Sinne zeigt der Band nicht nur eindrucksvoll, wie spätmittelalterliche Dichtung aussieht, sondern auch, was Renaissance ist.) Das soll hier aber nicht gegeneinander ausgespielt werden, so bedenkenswert und interessant der Kontrast auch ist. Gerade Oswald von Wolkenstein ist ein fulminanter Lyriker, mit scharfen Augen und einem tollkühnen Sprachzentrum.

Ausladend schwelgende Verse, „geblüemte“ Verse wie „Frölich, zärtlich, lieplich und klärlich, lustlich, stille, leise / in senfter, süesser, keuscher, sainer weise / wach, du minnikliches, schönes weib / reck, streck, preis dein zarten, stolzen leib!“ setzen hier ein Niveau, das nur eine Strophe später nochmals überschritten wird und sich in Richtung einer Musik bewegt, der die trockene Semantik zweitrangig geworden ist: „Lunzlocht, munzlocht, klunzlocht und zisplocht, / wisplocht, freuntlich sprachen / auss waidelichen, gueten, rainen sachen / sol dein pöschelochter, roter munt.“

Um diesen Mund wird es freilich noch einige Zeit gehen. So manche großformatige und komplizierte Stollenstrophe begnügt sich mit solcher Beschreibung, wortreich und wortverliebt. Wer sich also in seinem lyrischen Geschmack der Kühle und Kargheit der Moderne verpflichtet fühlt und dem Glauben anhängt, dass Präzision einerseits eine Aufgabenstellung der Lyrik sei und andererseits mit Kürze zusammenhänge, kann mit diesen Texten eine Rosskur an sich vornehmen; wer hingegen Sprache und ihr ausgelassenes Spiel liebt, findet hier viele lyrische Gebilde, um sich mit selbigen geradeaus zu betrinken.

Der Kommentar zu diesen Gebilden ist, wie bereits gesagt, vorbildlich gemacht. Der Herausgeber als Kommentator scheut sich nicht, in angenehmer Weise und am richtigen Ort in der ersten Person Singular zu sprechen, indem er etwa auf Verstehens- oder Forschungslücken hinweist. „Vor diesen Versen kapituliere ich“, heißt es etwa einmal in Bezug auf Frauenlobs Totenklage für Konrad von Würzburg. Dadurch werden Probleme der Überlieferung, der Übersetzung und Deutung sichtbar gemacht: Der Effekt ist um ein Vielfaches lehrreicher als die so gern behauptete Vollständigkeit und Vollrichtigkeit mancher literaturwissenschaftlicher Anmerkung: Der Leser profitiert von den aufgezeigten Lücken.

Auch als Übersetzer dient Wachinger dem Verständnis der Originaltexte. Im traditionellen Gegenüber zweisprachiger Ausgaben lassen sich die mittelhochdeutschen Texte verfolgen. Auf eine gestrenge Imitation der Form, besonders auf den Reim wurde dabei zum Glück verzichtet. So weit weg ist diese Sprache ja noch nicht, dass sich nicht anregend nachvollziehen ließe, wie weit diese Zeit weg ist, und wie andersartig man über die Themen schreiben kann, über die ständig und auch heute geschrieben wird. Für Leser, die ihr Interesse an Lyrik auch über den traditionellen Kanon hinaus treiben wollen, ist diese Sammlung unentbehrlich; jedes Regalbrett, das des Minnesangs Frühling beherbergt, sollte ihm dieses Buch als Nachbarn gönnen.

Literaturangabe:

WACHINGER, BURGHART (Hrsg.): Deutsche Lyrik des späten Mittelalters. Text und Kommentar. Deutscher Klassiker Verlag, Berlin 2010. 1070 S., 18 €.

Weblink:

Deutscher Klassiker Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: