Von Silke Herweg
Der vorliegende Band geht zurück auf die Arbeit des Göttinger DFG Graduiertenkollegs „Generationengeschichte. Generationelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert“ und bildet den Auftakt der von Bernd Weisbrod herausgegebenen Reihe „Göttinger Studien zur Generationsforschung“. Ein hehres Ziel setzten sich die meistenteils Nachwuchsforscher – den wissenschaftlichen Anspruch aus der interdisziplinären Arbeit in eine eigene Fragestellung umzusetzen: „Generation als Erzählung“. So schreibt Weisbrod in seinem Vorwort, die Projekte ließen erkennbar werden, „dass generation building in der Moderne entscheidend von der Art der Generationsrede abhängt“, und es habe sich gezeigt, „dass prägende Erfahrungen [...] zwar individuell gemacht, aber generationell gesammelt und gedeutet werden müssen“. Damit stellt er einen Minimalkonsens der Generationenforschung heraus, lässt jedoch die Frage offen, wie der Begriff der Generationsrede hier verstanden wird.
Wer sich als Leser grundsätzlich über den Diskurs „Generation“ informieren möchte, sei zunächst ganz buchstäblich an die klug zusammenfassende Einleitung verwiesen, die mit Karl Mannheim und Hans-Ulrich Wehler zugleich an Ur-Voraussetzungen anknüpft und populäre Definitionen des Begriffs diskutiert. Den Ausgangspunkt bildet so Hans-Ulrich Wehlers Argumentation im fünften Band der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“, deren Prägung durch das Scheitern der 68er-Generation von den Herausgeberinnen und Herausgebern Björn Bohnenkamp, Till Manning und Eva-Marie Silies hervorgehoben wird: „Wehlers ‚Gesellschaftsgeschichte’ kann als generationelle Erzählung verstanden werden, die die Selbstverortung des Autors in dem von ihm analysierten historischen Prozess offenbart“. Der Sammelband untersucht Gemeinsamkeiten verschiedener Generationenerzählungen, wobei das generationelle Narrativ, das sich schon bei Wehler durch die Einbeziehung autobiografischer Elemente äußert, als Kommunikationsmodus aus vier Blickwinkeln analysiert wird: Generation verstanden als Argument, Mythos, Auftrag oder Konstrukt. Dementsprechend wurden die einzelnen Beiträge unter einen dieser Aspekte summiert. Die Fallstudien böten einen heuristischen Ansatz, um Erzählweisen zu bestimmen und zu hinterfragen. Bevor die Einleitung jedoch in wissenschaftlicher Manier auf die einzelnen Beiträge eingeht, wird als Mittel zur Präzisierung des eigenen Ziels eine klare Formulierung von Wehlers an Mannheim angelehntes Generationenverständnis gegeben: „Generationen sind bei ihm politisch orientierte Sozialformationen, die einer Programmatik folgen. Nur solche generationellen Gruppen könnten aus seiner Sicht eine plausible Generationenerzählung erzeugen, seien mithin keine Konstrukte“. Die Auseinandersetzung mit dieser Deutung ist in zahlreichen der Einzelbeiträge zu spüren.
Aus interdisziplinärer Perspektive beleuchtet die Einleitung zudem die Begriffsdeutungen und -auseinandersetzungen in der Geschichtswissenschaft, den Sozialwissenschaften, in der Familienforschung, der soziologischen Erzählforschung sowie in der Literatur- und Kulturwissenschaft. Dabei werden namhafte Forscher und neueste Tendenzen der Disziplinen genannt und in Grundzügen erläutert. Generation als Erzählung zu begreifen erweitere so den Interpretationsspielraum für historische und soziokulturelle Forschungen, in denen das Paradigma der Generation zuvor oft unhinterfragt vorausgesetzt worden sei. Durch die Zur-Seite-Stellung des Begriffs der Erzählung wünschen sich die Herausgeber neue Perspektiven auf die Deutung der Generation, womit auch eine Öffnung der Erzähltheorie auf außerliterarische Erzählungen verbunden sei. So werde die Generation als Erzählung als kulturelles Deutungsmuster für die interdisziplinäre Erforschung von Kommunikation dienen: „Generationelle Zuschreibungen sollen daher im Folgenden als ein ‚im privaten und öffentlichen Raum stattfindendes Kommunikationsgeschehen’ aufgefasst werden, dessen nähere Bestimmung eine zentrale Voraussetzung dafür ist, ‚Generationengeschichte systematisch als Kommunikationsgeschichte’ zu schreiben“.
So beginnt denn auch der erste Abschnitt, der Generation als Argument auffasst, mit einem Artikel Malte Thießens über die Konstitution der Generation „Feuersturm“ als lebensgeschichtlicher Erzählung, „die interaktiv verhandelt wird, gegenwartsbezogen und von kulturellen Einflüssen geprägt ist“. Der Begriff der Generation wird hier als biografisches Argument verstanden, das den interviewten Individuen eine kollektive Projektionsfläche für persönliche Normen biete, so Thießen, der hier von seiner Forschung über Erinnerungen an und Erzählungen vom sogenannten Luftkrieg berichtet. Er macht in den Reden von Generationserfahrungen drei verschiedene Erzählmuster aus: Generationenrede im Muster der Differenz, als Vermächtnis und als Tabu. Generationalität ist für ihn nicht an „äußeren“ Merkmalen festlegbar, sondern zuerst von gegenwärtigen Motiven interessegeleitet. „Generationalität, so könnte man abschließend zusammenfassen, ist im Grunde ‚Gegenwartsbewältigung’ – nicht mehr, aber auch nicht weniger“.
Ebenfalls argumentativ soll der Begriff im Beitrag zur familialen Einheit und generationellen Differenz von Uta Karstein verstanden werden. Ihren Ausgangspunkt bei Karl Mannheim nehmend führt sie zunächst eine Begriffsannäherung durch, um die familiäre Kommunikation als theoretischen und empirischen Zugang zu generationellen Verhältnissen zu begründen. Am Beispiel von Interviews mit Dreigenerationenfamilien will Karstein Kommunikationsmuster bei Differenzen innerhalb der Generationen aufzeigen, für die sie eine Typologie erstellt hat (Strategie der Überblendung, der Externalisierung oder Problematisierung). Aber ihre Typologie bleibt in der Darstellung zu oberflächlich, zumal sie sie auch nur mit einem Beispielinterview belegt. Insgesamt konnte dieser Beitrag seinen Forschungsgegenstand nicht ausreichend präsentieren, immerhin gibt es sowohl in den Anmerkungen als auch im Autorenverzeichnis einen Hinweis auf einen weiteren Artikel Karsteins, der sich der Thematik hoffentlich ausführlicher widmet.
Rundum gelungen ist dagegen der Beitrag „Vom Zählen und Erzählen“ von Björn Bohnenkamp, der den Leser auf eine Art Reise durch seine Argumentationsstruktur mitnimmt und in aufgelockertem Stil Generationenerzählungen zu Filmplots umgestaltet, um so auch „Laien“ die Zusammenhänge von der Kulturtechnik des Erzählens und der Evidenz erzeugenden Kraft des Generationenbegriffs zu verdeutlichen: „Ein so sperriger, historisch wandelbarer und in sich widersprüchlicher Begriff wie der der Generation erzeugt selbst vor einem skeptischen Generationenforscher eine mitunter spontane Evidenz, wenn dahinter nur eine gute Geschichte lauert, eine spannend erzählte Welt, Protagonisten und Antagonisten, kausale Entwicklungen und vieles mehr“. Bohnenkamp geht darüber hinaus auch auf populäre Generationenzuschreibungen ein (Generation Golf, Praktikum und Klingelton), um für die Begriffsverwendung und sich daraus ableitende Interpretationen zu sensibilisieren. Er verweist dabei auf die Wichtigkeit korrekter empirischer Erhebungen und deren dichotomer Verbindung zu den Generationenerzählungen, die Karl Mannheim bereits erkannte. So stellt er zwei Zugänge zum Generationenkonzept – den mathematisch-soziologischen und den geisteswissenschaftlichen – heraus, konstatiert die Prägnanz Mannheims und rettet die Generationenforschung gegenüber populär(-wissenschaftlicher) Entstellung. Dabei ist ihm besonders daran gelegen, Evidenzen nicht vorschnell herzuleiten, quantitatives Zählen und qualitatives Erzählen sollten immer miteinander verknüpft werden: „Wenn die Generationendeutung zu problemlos vonstatten geht, dann ist vielleicht irgendwo ein gedanklicher Sprung im Geflecht der Zahlen und Worte. Denn im Kern drehen sich die Generation Studies stets um das Problem der Generationen“.
Mit diesem Beitrag verlässt der Sammelband die argumentative Begriffsdeutung und wendet sich dem Aspekt der Generation als Mythos zu. Hier wird ein weiter Bogen von den alttestamentlichen sogenannten Erzvätern im Beitrag von Melanie Köhlmoos über die generationelle Ausdeutung von Unternehmensgeschichten bei Kim Christian Priemel bis hin zu medizinischen und philosophischen Interpretationen der Erbfolge in Thomas Manns Familienroman „Buddenbrooks“ (von Katrin Max) gespannt. Generationenerzählungen werden hier insofern als Mythos verstanden, als sie die Herkunft der Erzählenden legitimieren sollen. Alle drei Beiträge geben einen prägnanten Einblick in das jeweilige Forschungsfeld. Die folgende Sektion wendet sich dagegen einer zukünftigen Erzählperspektive zu und untersucht den Generationenbegriff unter dem Blickwinkel des Auftrags. So will auch Christina Lubinksi die Generation als kulturelles Ordnungsmuster begreifen, wenn sie Erzählungen in mehrgenerationellen deutschen Familienunternehmen betrachtet. Sie arbeitet die zentrale Bedeutung von Generationenerzählungen der Unternehmen Bagel, Deckel und Rodenstock heraus und definiert sie als typische Eigengeschichten, „welche die eigene Existenz legitimieren und dabei auf eine Generationenabfolge als erstes Strukturierungsprinzip zurückgreifen“. Daniel Flückinger wendet sich dagegen dem Schweizer Revolutionsgeschehen des 18. und 19. Jahrhunderts zu, um deren konservative zeitgenössische Tradierung als Auftrag an die nachfolgende Generation zu thematisieren. Und schließlich untersucht Jörg Thomas Richter generationelle Zusammenhänge im amerikanischen Familienroman der Gegenwart im Fokus des Nachhaltigkeitsdiskurses.
Der letzte Abschnitt geht schließlich auf das Moment der Konstruktion von Generationen ein. Folgerichtig finden sich hier zwei Beiträge zur literarischen Generationenkonzeption. Sowohl Michael Ostheimer mit seinem Aufsatz zur Symptomatik traumatischer Geschichtserfahrung in der zeitgenössischen Erinnerungsliteratur als auch Thomas Wallner, der sich Generationenbeziehungen in Familienromanen deutsch-jüdischer Autoren der sogenannten zweiten Generation – den Kindern der Shoah-Opfer – widmet, verorten ihre Ausführungen in aktuellen literaturwissenschaftlichen Debatten um diese Begriffe. Auch Christina May zeigt das Konstrukthafte, wenn sie den Fokus auf die soziologische Ebene legt: Sie untersucht Rentenversicherungssysteme und die sich aus dem „Generationenvertrag“ ergebende soziale Ungleichheit im Wohlfahrtsstaat.
Insgesamt handelt es sich bei diesem Band um eine gelungene Eröffnung der Göttinger Generationenforscher, dem es zumeist auf eine präzise Begriffsdeutung ankommt und der auch thematisch nicht bewanderten Lesern einen spannenden Einblick in die aktuelle Forschung des Graduiertenkollegs bietet. Dass einzelne Positionen und Ergebnisse einer eingehenderen Prüfung durch ihre jeweilige Disziplin bedürfen, steht dabei außer Frage.
Literaturangabe:
BOHNENKAMP, BJÖRN; MANNING, TILL; SILIES, EVA-MARIA (Hrsg.): Generation als Erzählung. Neue Perspektiven auf ein kulturelles Deutungsmuster. Wallstein Verlag, Göttingen 2009. 262 S., 29,90 €.
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