Erst der Arm. Dann das Kinn. Schließlich der Verstand. Was Viktor Vladimirowitsch Petrow plagt, scheint real zu sein. Ist denn nicht seine geliebte Frau Manja plötzlich einarmig, ist nicht ihr Kinn verschwunden? Löst sie sich denn nicht in den folgenden Tagen, in denen Viktor nervlich am Ende ist, Schritt für Schritt auf? Verliert die Beine. Wird zur Kugel. Bis von ihr nur noch ein Ohr übrig ist, das Viktor bei sich trägt. Und dann läuft er ihr am Arm eines anderen Mannes in Leningrad über den Weg. Welche Perspektive stimmt, welchen Beobachtungen ist zu trauen – das ist eine der Kardinalfragen, die die Erzählungen Gennadij Gors auszeichnen.
Die Prosa des 1907 in Verchneudinsk in Transbajkalien geborenen Gor, der elf Jahre alt war, als in der nahe gelegenen Stadt Tomsk die Revolution blutig zwischen Weißen und Roten ausgefochten wurde, der 1923 zum Literaturstudium nach Petrograd kam und vier Jahre später sein erstes Buch „Die Fakultät der Käuze“ herausbrachte, ist voller visueller Elemente. Nicht umsonst hieß der Erzählband, den er noch 1933 herausbringen konnte, „Malerei“. Da war Stalins Kampagne gegen missliebige, als „formalistisch“ geziehene Autoren und Bohemiens in Leningrad schon angelaufen, waren Daniil Charms und Alexander Wwedenski verhaftet und Jewgeni Samjatin emigriert. Drei Jahre später erreichte die Kujonierungswelle ihren Höhepunkt. Leonid Dobyèin, dessen Roman „Im Gouvernement S.“ diffamiert wurde, sah keinen anderen Ausweg als Selbstmord.
Leningrad sollte bis in die sechziger Jahre hinein ein lebensgefährliches Literaturpflaster bleiben, für die nach 1946 offiziell geächtete Anna Achmatowa wie auch für Joseph Brodsky, der 1964 wegen „Schmarotzertums“ und „parasitärer Lebensweise“ zu Zwangsarbeit verurteilt wurde. So hatte Gennadij Gor guten Grund, sich nach Kriegsende bis zu seinem Tod 1981 vor allem der Science-Fiction zuzuwenden und sehr zurückgezogen zu leben. Nur ausgewählten Vertrauten offenbarte er seine Ansichten. Der Autor Valerij Popow gestand später: „Das, was er uns erzählte, hat uns, Zöglinge von Sowjetschulen, zutiefst erschüttert. Literatur, sagte er, muss extravagant sein, herausfordernd, verstörend.“
Und extravagant sind die phantastischen Erzählungen aus den dreißiger Jahren, die in „Das Ohr“ versammelt sind. Und verstörend. Ein sich grotesk ablösender Körperteil, der ein Eigenleben beginnt, ist ein klassischer Topos der russischen satirischen Literatur. So macht ja bekanntlich in Nikolai Gogols „Die Nase“ ein menschliches Riechorgan Karriere und fährt schließlich als Staatsrat durch die Straßen. Niemals weit entfernt sind dabei Ironie, Travestie und Parodie, auch bei Gor, so wenn er in einem Mietshaus einen spätdekadenten, gänzlich systemunkonformen Poeten auf einen faktengläubigen Naturwissenschaftler prallen und miteinander debattieren lässt („Die Einmischung der Malerei“).
Da gibt es einen Maler, der nur ein Sujet hat – ein Glas – und eine offensichtlich schizophrene Existenz führt: die eine träge-hedonistische unter dem Vornamen, die andere künstlerisch-monomane unter dem Nachnamen. Da ist in „Malerei“ ein anderer Künstler, der in einem Kulturfunktionär mit götzenähnlichem Antlitz einen seit dreizehn Jahren von ihm gesuchten Konterrevolutionär meint wieder gefunden zu haben, der einst seinen Bruder verriet und ermordete. Doch auch hier scheinen die Augen den Maler zu trügen. Und in „Der Wasserkessel“ wacht ein Mann auf, um sich als Haushaltsgerät in seiner eigenen Wohnung zu finden und stumm anschauen zu müssen, wie seine Verwandten über ihn, den Vermissten, reden, wie seine Frau ihn betrauert, rasch aber eine Beziehung mit einem anderen Mann beginnt.
Stellen diese Texte schon eine schöne Ergänzung der Bücher anderer sowjetischer Satiriker wie Bulgakow oder Tynjanow dar, so sind die nun ebenfalls von Peter Urban übertragenen Blockade-Gedichte, eine doppelte Erstveröffentlichung – die erste vollständige Edition auf Russisch und die erste Übertragung ins Deutsche – eine Sensation.
Leningrad wurde von der deutschen Wehrmacht seit dem 8. September 1941 900 Tage lang belagert. In der bombardierten, ausgehungerten Stadt, die Stalin um keinen Preis aufgeben wollte, starben in dieser Zeit Hunderttausende. Sie verhungerten bei 40 Grad minus in ungeheizten Häusern, manche fielen vor Schwäche auf den Straßen um und wurden liegen gelassen. Diese Schrecknisse werden von Gor in Gedichtform gebracht. Kein einziges dieser Poeme erschien zu seinen Lebzeiten; selbst für engste Freunde war der Fund im Nachlass eine Überraschung. Es herrscht hier keinerlei sozialistisches Heldenpathos, sondern trotz zahlreicher Verweise des gebildeten Autors Lakonie, endlose Verstörung und eine an Wahnsinn grenzende Verzweiflung, die an die Grenzen des Sagbaren stößt: „Das Wasser seines Schweigens müde / Fing plötzlich wieder an zu schreien.“ Nichts wird ausgelassen, weder die Freude über ein Ei als Festmahlzeit noch Kannibalismus („Ich aß Rebekka, die so gerne lachte“).
Daniil Charms hatte 1927 Leningrad, wo er 15 Jahre später elend verhungern sollte, hellsichtig „Letheburg“ genannt, war die Stadt doch seit der Oktoberrevolution immer wieder von Not, Elend, Vertreibung und Terror geschüttelt worden. Doch die Blockadezeit stellte alles in den Schatten. Gors Bildsprache wird Schritt für Schritt zurückhaltender, kälter. Der Dichter sieht sich am Ende angekommen: „Die Wörter froren fest an seinem Lied.“ Denn was er sah und hörte, überstieg jede Vorstellung: „Das ist kein Hase und aus und vorbei /, da schlachten sie im Wald ein Kind. / Und das Herz geöffnet von dem Schrei / Krampft sich vor Mitleid zusammen.“
Literaturangaben:
GOR, GENNADIJ: Das Ohr. Phantastische Geschichten aus dem alten Leningrad. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Verlag Friedenauer Presse, Berlin 2007. 152 S., 16 €.
GOR, GENNADIJ: Blockade. Gedichte. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Edition Korrespondenzen, Wien 2007. 248 S., 23 €.
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